Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Abrüstung im Betrieb
MANAGEMENT Wenn ein Konflikt eskaliert, braucht man Mediatoren wie Roland Kunkel. Er bringt Leute zusammen, die nicht mehr miteinander reden.
Von ANDREAS MOLITOR. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.
Der Tritt auf den Fuß des Lehrlings kam plötzlich, mit voller Absicht und mit Wucht. Der Junge verzog vor Schmerzen das Gesicht. "So", sagte der stellvertretende Ausbildungsleiter triumphierend, "jetzt weißte hoffentlich, warum du bei der Arbeit Sicherheitsschuhe anziehen sollst." Roland Kunkel hat die didaktisch gedachte Fußtritt-Attacke nicht vergessen. Er stand direkt daneben. Damals, Mitte der 80er Jahre, war er Jugendsekretär der IG Metall.
An jenem Vormittag wurde er vom stellvertretenden Ausbildungsleiter eines großen, in West-Berlin beheimateten Unternehmens durch die Fabrik geführt. Kunkel wollte dort eine Jugendvertretung installieren und stand in Verhandlungen mit der Ausbildungsleitung. Ein bisschen fühlte er sich auch auf deren Wohlwollen angewiesen. Und nun erlebte er das.
"Ich war fassungslos und bestürzt", erinnert sich der heute 54-Jährige, "und völlig unfähig zu einer Reaktion." Instinktiv wusste er, dass er hier einschreiten und seine Schutzfunktion gegenüber dem Auszubildenden wahrnehmen musste. Schon von Amts wegen - schließlich war er Jugendsekretär! Aber er war blockiert - und sagte kein Wort. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Kunkel "emotional sehr traditionell gestrickt war", wie er es heute ausdrückt.
"Ich bin in einem kleinen Dorf im Spessart aufgewachsen", erzählt er, "da war es durchaus üblich, dass man sich Dominanzgesten unterwirft und auf autoritäre Reflexe reagiert." Der Tritt auf den Fuß war zweifellos einer. Roland Kunkel spürte in diesem Moment "Machtlosigkeit und eine unglaubliche Scham". Und er sagte sich: "Du musst was tun, dass dir so etwas nie wieder passiert." Gut zwei Jahrzehnte später ist die Begebenheit zwar fast zur Anekdote geronnen.
Wichtig ist sie trotzdem geblieben, über all die Jahre, weil sie für Kunkel Weichen gestellt hat. Der Mann, der damals vor der Auseinandersetzung kniff, arbeitet heute bundesweit als Mediator. Er wird gerufen, wenn sich Kontrahenten in einen Konflikt derart verstrickt haben, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskommen. Konfliktkonstellationen gibt es fast überall, wo für das Unternehmen, das Team oder den Einzelnen viel auf dem Spiel steht: im Verhältnis zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat etwa, die sich über eine Sozialauswahl erbittert beharken.
In Teams, wo sich Highflyer von Leistungsschwächeren ständig blockiert fühlen. In kleinen Firmen, wenn völlig überarbeitete Projektmitarbeiter heulend durch die Büros rennen. Oder in Amtsstuben, in denen eine überforderte Führungskraft Dauer-Fruststimmung verbreitet hat. So war es kürzlich im Fall einer großen Stadtverwaltung. Eine Mitarbeiterbefragung hatte dort in einem Amt eklatant schlechte Zufriedenheitswerte ergeben.
Roland Kunkel sollte der Sache auf den Grund gehen. Es war nicht allzu schwer herauszufinden, dass der neue Amtsleiter das Problem war. Die Mitarbeiter waren frustriert, entnervt und zunehmend auch wütend. Wenn es schwierig wurde, neigte der erste Mann dazu, sich hinter seinen Akten zu verschanzen. Er war dann für niemanden ansprechbar. Mitarbeiterbesprechungen erlebte er als Anklageforum. "Was ist denn eigentlich aus diesem Vorhaben geworden und aus jenem?", wurde er ständig gefragt.
Er fühlte sich wegen solcher Nachfragen massiv unter Druck gesetzt, nicht zuletzt von seiner ausgesprochen kommunikativen und sprachgewandten Stellvertreterin. Ein Unternehmensberater hätte der Behördenleitung oder dem Personalrat vermutlich schnelle Argumentationshilfe für eine Versetzung der unglücklich agierenden Führungskraft geliefert. Genau das sieht Roland Kunkel nicht als seine Aufgabe an.
Ihm geht es darum, die Hintergründe lähmender Auseinandersetzungen zu klären, die jeweiligen Positionen der Kontrahenten verständlich zu machen und beide Seiten erst einmal aus der Sprachlosigkeit herauszuführen - weil nur Konfliktpartner, die sich gegenseitig zuhören, ihr Problem auch lösen können. In einem ersten Workshop schilderte der Amtsleiter, der anfangs noch befürchtet hatte, vor ein Tribunal gezerrt zu werden, wie bedrückend er selbst die ersten Monate in seiner neuen Position erlebt hatte.
Vorher war er ein exzellenter zweiter Mann gewesen, der stets eine hervorragende Papierlage hergestellt hatte. "In der neuen Position als Chef waren auf einmal seine kommunikativen Nahkampffähigkeiten gefordert", sagt Roland Kunkel - aber die waren extrem unterentwickelt. Überall vermutete der Chef Rädelsführer, die ihm ans Zeug wollten; immer tiefer zog er sich ins Schneckenhaus seiner Aktenberge zurück. Von seinen Kollegen wurde er zusehends als "schwarzes Loch" wahrgenommen. Die Befragung nutzten die Mitarbeiter als Ventil.
Kunkel benötigte letztlich nur zwei oder drei Mediationsgespräche mit dem Amtsleiter und seiner Stellvertreterin, um die Blockade aufzuheben. Die Vizefrau erkannte, dass die Führungskonstellation zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten nicht funktionierte. Sie ging freiwillig in eine andere Position, ohne sich degradiert fühlen zu müssen. Es wurde ein Stellvertreter gefunden, der emotional besser mit dem Amtsleiter harmoniert; jemand, der die Sitzungen gut vorbereitet und Zwischenstände bekannt gibt. Seit dem Revirement zeigen die Leistung des Teams und die Zufriedenheitswerte deutlich nach oben.
KONFLIKTE ERZEUGEN LEIDENSCHAFT_ Roland Kunkel sieht sich keineswegs als Konfliktvermeider. Im Gegenteil: "Heftigere Emotionen treten doch genau da auf, wo etwas nicht gleichgültig ist, sondern wertvoll." Eine Lohnerhöhung. Ein Streit um Entlassungen oder eine Betriebsverlagerung. Verhandlungen übers Forschungsbudget. Die eigene Rolle im Team. "Wir empfehlen, Konflikte zu begrüßen", verkündet er fröhlich.
"Wir sind bereit, etwas zu riskieren, und engagieren uns", beschreibt Kunkel die emotionale Lage zu Beginn eines Konflikts. "Wir empören uns, wenn andere unsere Werte verletzen." Konflikte erzeugen Leidenschaft - und die kann äußerst produktiv wirken. Allerdings nur, solange die Akteure die "gefühlte Gürtellinie" respektieren und eine Intuition für die Verhältnismäßigkeit haben. "Die Kontrahenten agieren leidenschaftlich und sehr engagiert, sie haben die Auseinandersetzung aber unter Kontrolle", beschreibt Roland Kunkel diesen Zustand. "Sie halten sich an gemeinsame Regeln und achten darauf, dass die Konfliktkosten in angemessenem Verhältnis zum Streitwert stehen."
Eine bewusste Anleihe aus der ökonomischen Theorie. Kunkel ist Diplom-Volkswirt - wobei er sich lieber und sicher auch treffender "Konfliktökonom" nennt. Wenn die Auseinandersetzung eskaliert, übersteigen die Kosten schnell den Nutzen. Der Konflikt droht in die Katastrophe umzukippen, die "destruktiv miteinander verstrickten" Kontrahenten werden zunehmend von den Konfliktkosten beherrscht.
Das Konfliktmanagement, wenn überhaupt vorhanden, ist völlig zusammengebrochen, die Gesprächsfäden sind abgerissen, eindeutig negative Emotionen wie Resignation, Hass, Kränkung, tiefe Enttäuschung und Misstrauen übernehmen die Regie. "Die Akteure bewegen sich zunehmend in völlig verschiedenen subjektiven Wirklichkeiten, haben also den Kontakt zueinander verloren", sagt Kunkel. Alle leiden unter den Schäden der Auseinandersetzung, machen aber unverdrossen weiter, weil sie sich subjektiv im Recht sehen und glauben, sich verteidigen zu müssen.
PARALYSIERTE RESSOURCEN_ Im Extremfall kann ein solcher Konflikt, wenn er katastrophische Züge angenommen hat, nicht nur die Kontrahenten, sondern auch das gesamte Umfeld lahmlegen. Dann werden "nicht nur die eigenen Ressourcen, sondern auch die anderer Leute sinnlos verballert". So wie in einem Fall aus Roland Kunkels Mediationspraxis. Eine Personalratsvorsitzende und ihr Stellvertreter hatten sich völlig ineinander verbissen.
Es war eine erbitterte Feindschaft auf mehreren Ebenen. Im Personalrat litt er unter ihr, im normalen Arbeitsverhältnis rächte er sich. Dort war er nämlich ihr Chef. Außerdem gehörten sie konkurrierenden Gewerkschaften an. "Sie haben ihre gesamte Zeit damit zugebracht, sich zu befehden", erinnert sich der Mediator. "Wenn man denen das Feindbild weggenommen hätte, wäre nichts mehr von Persönlichkeit übrig geblieben." Hier war Schadensbegrenzung gefragt.
"Wenn ein Konflikt derart eskaliert ist, wenn es um Mobbing geht, wenn der Ruf von Mitarbeitern geschädigt wurde oder Leute krank geworden sind, hilft keine Mediation mehr, sondern nur räumliche und emotionale Distanz. Da geht es dann vorrangig um Trennung."
Kunkel baute eine Gegenkoalition im Umfeld der Kontrahenten auf und isolierte damit die Schadensquellen. "Ich habe dafür gesorgt, dass sie für ihre Auseinandersetzung keine Verbündeten fanden und auch möglichst wenig Ressourcen in die Finger bekamen, um ihren Krieg fortzuführen." Mittelfristig wurden beide von ihren Positionen abgelöst.
"Koalition" ist ein zentraler Begriff in Roland Kunkels Mediationsstrategie. Er versucht, Bündnisse zu schmieden, die Konflikte zwar nicht vermeiden, aber deren Kosten beherrschbar machen. Eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Akteuren mit durchaus gegensätzlichen Interessen, die das Unternehmen konfliktfest macht. "Das ist so eine Art rotes Telefon", erklärt er, für wirklich kritische Situationen, in denen Ressourcen und Werte des Unternehmens auf dem Spiel stehen.
Da müssen sich die Beteiligten dann in die Augen sehen und einig sein, sich jetzt nicht weiter in gegenseitige Beschuldigungen hineinzusteigern, sondern auf einen konstruktiven Umgang mit dem Konflikt umzuschalten." In seinem Unternehmen Stepp, mit Sitz in Berlin, bildet Kunkel Mediatoren speziell für Arbeitskonflikte aus.
Idealerweise sollten Unternehmen oder Behörden mit Hilfe dieser Mediatoren selbst eine Konfliktkultur implementieren und verbindliche Regeln vereinbaren, wie Auseinandersetzungen künftig auch mit Bordmitteln gelöst werden können. In etlichen Fällen ist dies gelungen, beispielsweise bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, wo bereits seit drei Jahren ein systematisches Konfliktmanagement mit detaillierten Ablaufschemata und klaren Zuständigkeiten existiert.
den SCHADEN bilanzieren_ Konkrete Firmennamen sind tabu. Wer trotzdem wissen will, wie Kunkel es schafft, Konflikte zu begrenzen, dem wird ein abstrakter, nüchterner Ablaufplan serviert, ein Eindruck davon, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt.
Jede Mediation beginnt mit einer röntgengenauen Aufnahme der Konfliktkonstellation: Wer sind die Kontrahenten, worum geht es ihnen, welche Werte sind berührt oder verletzt, was sind die unbestrittenen Fakten? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Streitparteien, die stark genug sein könnten, den Konflikt zu disziplinieren? Und: Wie weit ist die Auseinandersetzung schon eskaliert? Ist es noch ein Konflikt? Oder schon eine Katastrophe?
Der nächste Schritt ist die Bilanz des bereits entstandenen Schadens, und zwar "nahe am Erleben der Beteiligten". Worin fühlen sie sich geschädigt? Wie sieht ihre persönliche Bilanz der Konfliktkosten aus? "In dieser Phase muss ich auch das Vertrauen der Konfliktparteien bekommen", erklärt Roland Kunkel. "Für eine Mediation brauche ich von beiden Seiten einen eindeutigen Auftrag. Das ist absolute Grundvoraussetzung."
Erst wenn er das Vertrauensmandat beider Konfliktparteien hat, kann er - je nach Situation und Eskalationsgrad zuerst in Einzelgesprächen oder gleich in Workshops - mit der inneren Abrüstung beginnen und "die Leute dazu bringen, aus ihren Durchsetzungs- und Vernichtungsfantasien auszusteigen".
atomwaffenfreie zonen en miniature_ Schon das Vokabular verrät, wo die Mediation ihre Wurzeln hat: in der Friedensbewegung, in Konzepten von sozialer Verteidigung, gradueller Abrüstung und vertrauensbildenden Maßnahmen. Erfahrungen christlicher Friedensgruppen standen genauso Pate wie die Ideen zur Sicherheitspartnerschaft des ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme aus den frühen 80er Jahren oder die Versöhnungsbemühungen im Nordirland-Konflikt.
Auch Roland Kunkel sagt, er habe viel von der Friedensbewegung und ihren Verhandlungsstrategien gelernt, das er nun in die Welt der Betriebsverfassung übersetzt, indem er dort sozusagen atomwaffenfreie Zonen en miniature schafft: Wie macht man überprüfbar, was man verabredet hat? Wie evaluiert man Verhandlungsergebnisse? Wie praktiziert man Deeskalation?
Wo er in diesen entmilitarisierten Zonen seinen Standpunkt hat, ist für Roland Kunkel keine Frage. Er ist Gewerkschafter aus Überzeugung, in der Wolle gefärbt. Doch Kunkel benötigt das Vertrauen beider Seiten - das kann nur gelingen, wenn er mit offenen Karten spielt: "Ich mache gegenüber der Arbeitgeberseite kein Geheimnis daraus, dass die Gewerkschaften meine politische Heimat sind", sagt er. "Ich bin bekennendes IG-Metall-Mitglied - und bekennender Unternehmer."
Seine Kunden kaufen ihm das ab - in einem Job, in dem Integrität alles ist. In einem großen Unternehmen vermittelt Kunkel zurzeit sowohl innerhalb des Managements - dort gibt es Konflikte zwischen dem Arbeitsdirektor und dem Rest der Geschäftsführung - als auch im Gesamtbetriebsrat sowie bei Auseinandersetzungen zwischen Management und Betriebsrat. "Kontextvermischung" nennt er das - eigentlich eine heikle Situation.
"Alle Akteure müssen sich blind darauf verlassen können, dass ich nichts aus der Vertraulichkeitszone an die jeweils andere Seite weitergebe", erklärt er die Schwierigkeit: "Wenn da auch nur ein Anflug von Misstrauen aufkommt und mir eine Seite das Vertrauen entzieht, dann kann ich nicht mehr arbeiten."
betriebsräte brauchen machtbewusstsein_ Kunkel will seine Kunden nicht zu lammfrommen Zeitgenossen erziehen. Was er sich wünscht, sind konfliktfeste Betriebs- und Personalräte, die in Auseinandersetzungen mit Arbeitgeber oder Dienstherr nicht gleich einknicken. "Nur konfliktfähige Betriebsräte werden von Belegschaften und ihren Verhandlungspartnern ernst genommen", stellt er klar.
"Ein gesundes Machtbewusstsein ist unverzichtbar für starke Betriebsräte, deren Unterschrift auch etwas wert ist." Denn - so seine Erfahrung - wer brav und konfliktscheu in Verhandlungen über ein Bündnis für Arbeit geht, ohne eigene Forderungen und Prioritäten, wird den Mehrarbeits- oder Lohnverzichtsplänen des Managements wenig entgegenzusetzen haben. "So jemand ist von vornherein schwach und erpressbar", urteilt Roland Kunkel, "und bis zur nächsten Verzichtsrunde dauert es dann erfahrungsgemäß nicht lange."
Die Kunst liegt darin, einen Realitätssinn zu entwickeln, Konfliktfähigkeit und soziale Kompetenz zu verbinden. Die Rolle von Betriebsräten und Vertrauensleuten sieht Kunkel vor allen Dingen darin, betriebliche Konflikte in eine konstruktive Bahn zu bringen. Das ist offenbar dringend nötig - denn viele Führungskräfte sind dazu nicht in der Lage: "Sie sind gute Problemlöser, aber wenn es emotional hoch hergeht, sind sie oft überfordert."
Zwar steht der Management-Elite ebenso wie den Vertretern der Arbeitnehmer mittlerweile ein Heer von Coaches zur Seite, die man auch prophylaktisch buchen kann - dumm nur, dass ein Konflikttraining, wie Kunkel weiß, schnell selbst zum Politikum werden kann: "Bei vielen Konflikten geht es ja um interne Verteilungskämpfe. Und Führungskräfte haben sich gegenseitig immer im Verdacht, dass sie sich mit einer Konfliktmanagement-Ausbildung nur hochrüsten."