Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungGeschichte: „Ab in die Produktion“
Vor 40 Jahren trat der Radikalenerlass in Kraft. Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden systematisch auf ihre Verfassungstreue überprüft. Weil er DKP-Mitglied war, durfte IG-Metaller Gert Bauer nicht Lehrer werden. Von Jeannette Goddar
Als Agnete Ratzel und Gert Bauer sich treffen, scheint die Welt ihnen zu Füßen zu liegen. Es ist der Sommer 1970. Er, Jura-Student in Erlangen, und sie, Lehramtsstudentin aus Tübingen, werden vom Deutsch-Französischen Jugendwerk nach Paris eingeladen. Tage und Nächte diskutieren sie, was die Studenten damals bewegt. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, alles scheint möglich. Nur kurz darauf zieht Gert Bauer für seine Agnete nach Tübingen; wie sie schreibt er sich jetzt für ein Lehramtsstudium ein und will als Lehrer in den Staatsdienst.
Geworden ist aus Gert Bauer etwas ganz anderes: Der 62-Jährige ist Erster Bevollmächtigter der IG Metall Reutlingen-Tübingen und dorthin gekommen nach einer Anstellung als Gießer in einem Metallwerk. Seine Frau Agnete, die längst Bauer-Ratzel heißt, arbeitet zwar tatsächlich als Lehrerin – das aber erst seit gut zehn Jahren. Nur ein paar Jahre nach dem Sommer in Paris nämlich stellen Gert Bauer und Agnete Ratzel fest, dass die Welt ihnen doch nicht zu Füßen liegt. Beiden flattert ein Schreiben des Oberschulamtes auf den Tisch: Angesichts ihrer Gesinnung – belegt durch mehrmalige Reisen in die DDR, die Mitarbeit in einer Hochschulgruppe sowie in der DKP – sei der Weg in den Beamtenstatus und damit in den staatlichen Schuldienst für sie ausgeschlossen. Herausbekommen hatte das baden-württembergische Kultusministerium das mithilfe einer sogenannten Regelanfrage beim Verfassungsschutz: Wie bis zu 3,5 Millionen andere Beamtenanwärter in den 1970er und 1980er Jahren – genaue Zahlen gibt es nicht – wurden auch die beiden auf ihre Verfassungstreue überprüft. Denn zur Abwehr von Verfassungsfeinden sollte nur noch verbeamtet werden, wer die „Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung“ eintrete, wie es in den „Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ formuliert war, die vor 40 Jahren in Kraft traten – und als „Radikalenerlass“ fragwürdige Berühmtheit erlangten.
DIE ANGST VOR RADIKALEN GRUPPEN
Was war passiert? Beide hatten sich beim MSB Spartakus engagiert – dem Marxistischen Studentenbund, der, wie andere Hochschulgruppen auch, letztlich aus der Spaltung des SDS entstanden war. Nach ein paar Jahren in der SPD und zahllosen Sit-ins und Demonstrationen gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze sei er auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat gewesen, resümiert Gert Bauer heute – an der Universität, dort, wo sein Leben sich nun in weiten Teilen abspielte. Der Asta Tübingen wurde damals bestimmt von sogenannten Maoisten, die ihre Heimat in der Organisation „Roter Pfeil“ gefunden hatten. Weil die maoistische Doktrin ihm schon damals nicht zusagte, trat er dem MSB bei, der eine „Politik der gewerkschaftlichen Orientierung“ verfolgte, wie Bauer heute sagt. Wenig später wurde er Fachschaftsreferent – also der Asta-Referent, der für die universitären Fachschaften zuständig war. „Wir wollten Studenten für die Gewerkschaften gewinnen und dafür sorgen, dass auch sie ihr Leben als Arbeitskräfte im Blick haben und gemeinsam mit den Arbeitern draußen für ihre Interessen kämpfen“, erinnert sich seine Frau, die die Hochschulgruppe mitgegründet hatte. Nun mag das Engagement in kommunistischen Splittergruppen aus heutiger Sicht skurril erscheinen – damals jedenfalls ließen sich auch heutige Verlagsleiter, Chefredakteure, spätere Minister und Gewerkschaftsvorsitzende begeistern. Erlassen hatte den Radikalenerlass 1972 Willy Brandt, der Bundeskanzler, der durch die Annäherung an den Osten in die Geschichtsbücher eingehen sollte und wollte. Genau genommen ist das Instrument, mit dem das Wort „Gesinnungsschnüffelei“ in den bundesrepublikanischen Diskurs einzog, sogar eine Folge dieser Annäherung: Als Teil der Normalisierung der Beziehungen mit der DDR war, wie in Europa allerorten üblich, 1968 wieder eine kommunistische Partei, die DKP, zugelassen worden. Vor allem ihre Mitglieder sollten aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten werden – wie auch die der ungezählten K-Splittergruppen, des KBW, der KPD/ML oder der KPD/AO sowie ihrer Adepten an den Hochschulen. Reinhardt Wilke, persönlicher Referent von Willy Brandt und Leiter des Kanzlerbüros, erinnerte sich 2005 in einem Artikel im „Vorwärts“ an seinen Chef. „Damals kam der Berliner Antikommunist aus ihm heraus, als er mir vorhielt, Breshnew würde sich doch totlachen, wenn ‚seine Leute‘ bei uns Richter werden könnten.“ Es waren zudem die Jahre des RAF-Terrors, der „Krieg von sechs gegen 60 Millionen“ – den die RAF in den Worten des Schriftstellers Heinrich Böll der deutschen Gesellschaft erklärt hatte – war angenommen und hatte ein politisches „Klima der Denunziation“ erzeugt, das über Jahre Zigtausende unter Generalverdacht nahm. Willy Brandt bezeichnete gegenüber seinem Büroleiter später den Radikalenerlass als „Fehler“, Helmut Schmidt, sein Nachfolger im Kanzleramt, stellte lapidar fest, dass mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden sei.
Während Agnete Bauer-Ratzel kurz nach der Verabschiedung des Radikalenerlasses noch ihr Zweites Staatsexamen absolvieren durfte, wurde Gert Bauer das wenige Jahre später verwehrt. Mit 27 stand er ohne abgeschlossene Ausbildung da. Weil ihm, anders als so manch anderen, wenigstens kein Lebenstraum zerstört worden war, ging er nach einer erfolglosen Klage beim Verwaltungsgericht neue Wege: Als ungelernter Gießer fing er in einem Reutlinger Metallwerk an. „Ab in die Produktion“, kommentiert er mit einem für ihn typischen Schmunzeln – und dass er dort erstmals erlebt habe, dass die echten Probleme der Arbeiter andere sind, als er sich das im MSB Spartakus vorgestellt hatte: Statt um die Weltrevolution ging es dort doch eher um die Ernährung der eigenen Familie. Schnell fand Gert Bauer wieder eine Aufgabe: Er wurde Betriebsratsvorsitzender und als solcher bald freigestellt. 1984 kehrte er der DKP den Rücken und heuerte im gleichen Jahr als Sekretär bei der IG Metall an; seit 1999 ist er dort Erster Bevollmächtigter.
ZÄSUR IN DER LEBENSPLANUNG
Alle Beamtenanwärter fielen unter den Radikalenerlass – und das waren, in einer Zeit, in der Post wie Bahn noch nicht privatisiert waren, auch Briefträger und Lokführer. Werner Siebler zum Beispiel, ein ver.di-Aktiver aus Freiburg, hatte 1970 – mit 14 Jahren – als hoffnungsfroher Jungpostbote begonnen. Solange er noch unter 27 war, zu jung also für den Beamtenstatus, ging alles gut. Erst in den 80er Jahren musste Siebler gehen, und zwar unter großem Getöse: Er wurde nicht nur entlassen, er bekam auch Hausverbot im Hauptpostamt in Freiburg. Bis vor das Bundesverwaltungsgericht zog er in den Folgejahren; und er bewarb sich auf jede ausgeschriebene Stelle in der Post. Immer wieder brachte er Zeugen bei, vor allem Gewerkschaftskollegen, die ihm attestierten, er trete für die Grundrechte ein. Es nützte alles nichts: Wer für die DKP kandidiere – und das tut er in Freiburg bis heute –, sei unhaltbar für den Staatsdienst. Eingestellt wurde er erst 1991 wieder – und wie Gert Bauer bald als Betriebsrat freigestellt. Entgangen sind ihm durch die unfreiwillige Arbeitslosigkeit und die fehlenden Beamten-Privilegien, so schätzt er, 200 000 Euro.
Auch Agnete Bauer-Ratzel kämpfte – finanziell, weil sie sich Jahrzehnte in der Erwachsenenbildung von Honorarvertrag zu Honorarvertrag hangelte –, vor allem aber durch die Instanzen. Immer wieder beharrte sie darauf, ihr doch bitte im Einzelfall die Verfassungsfeindlichkeit nachzuweisen; immer wieder brachte sie Solidaritätsadressen und Unterstützerschreiben bei. Professoren setzten sich für sie ein, die GEW und die IG Metall, sogar ein FDP-Abgeordneter schrieb einen Brief. Genützt hat es erst, als der Europäische Gerichtshof in Straßburg 1995 den Radikalenerlass für unvereinbar mit den Menschenrechten erklärte. Ein Jahr später forderte ein Sigmaringer Verwaltungsrichter das Oberschulamt auf, sie einzustellen. Der Anruf, der ihr tatsächlich eine Stelle im Schuldienst anbot, kam fünf Jahre später: Im Jahr 2001, mit 52 Jahren, stand Agnete Bauer-Ratzel erstmals vor einer Klasse pubertierender Schüler. Wie das war? „Großartig!“, sagt sie. „Ich habe es ja immer gewusst: Ich werde und bin eine gute Lehrerin!“
WARTEN AUF EINE ENTSCHULDIGUNG
Einer der schönsten Momente aber sei gewesen, dass der Richter in Sigmaringen sich nach all den Jahren als Erster für das Unrecht entschuldigte. „Zwei Jahrzehnte galten wir als Verfassungsfeinde – wir wurden beschimpft, jeder konnte zu uns sagen: Geht doch nach drüben. Endlich fühlte ich mich als Person ein Stück rehabilitiert“ erinnert sich Agnete Bauer-Ratzel.Für eine Rehabilitierung seitens der Bundes- und Landesregierungen kämpft in diesem 40. Jahr die „Initiative gegen den Radikalenerlass“. Mit mehr als 250 Unterschriften von ehemals Betroffenen setzen sie sich dafür ein, dass ihre Akten vernichtet werden und ihnen eine materielle Entschädigung zukommt. Vor allem aber geht es ihnen um eine ordentliche Entschuldigung. Es gäbe „niemanden mehr, der den Radikalenerlass richtig findet“, sagt Werner Siebler, der dort aktiv ist. „Aber es gibt auch niemanden, der zu uns kommt und sagt: Es tut uns leid.“
Radikalenerlass: Staatlicher Gesinnungs-TÜV
Mit den „Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ beschlossen Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder im Januar 1972 den sogenannten „Radikalenerlass“. Mithilfe von „Regelanfragen“ beim Verfassungsschutz wurde fortan überprüft, ob gegen einen Bewerber für den öffentlichen Dienst Erkenntnisse über die Mitarbeit in einer verfassungsfeindlichen, aber nicht verbotenen Organisation vorlagen. Wenn ja, begründete dies das Recht, ihn abzulehnen.
Schätzungsweise 3,5 Millionen Anfragen gab es beim Verfassungsschutz aufgrund des Radikalenerlasses. Nach Angaben der GEW wurden 11.000 Berufsverbotsverfahren in Gang gesetzt, 2200 Disziplinarverfahren gegen mutmaßliche Verfassungsfeinde angestrengt, 1100 bis 1250 Bewerber wurden abgelehnt und 265 Angestellte entlassen – die meisten von ihnen Mitglieder der moskautreuen DKP oder DKP-naher Organisationen. Die DKP wurde damals direkt durch das Regime der DDR politisch und materiell unterstützt.
Nachdem die Bundesregierung den Radikalenerlass Ende der 1970er Jahre aufkündigte, gingen die Bundesländer unterschiedliche Wege: Die meisten SPD-regierten Länder setzten ihn in den Folgejahren außer Kraft; Baden-Württemberg und Bayern hielten bis 1991 an ihm fest. Heute überprüfen die meisten Länder die Verfassungstreue angehender Beamte mit einer „Bedarfsanfrage“, wenn einschlägige Zweifel bestehen. In Bayern wird die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation bis heute in einem Fragebogen abgefragt.