Quelle: Kai-Uwe Knoth
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Corona, Betriebsratswahlen und das Alltagsgeschäft fordern Betriebsräte dreifach. Bei Nordzucker und SPIE durften wir dabei sein. Von Fabienne Melzer und Joachim Tornau
Arbeit für zu Hause
Sigrun Krussmann hat sich Arbeit mit nach Hause genommen. Am 9. Februar steht eine Betriebsversammlung an, die letzte vor den Betriebsratswahlen am 3. März. Ein Teil der Beschäftigten wird in der Kantine teilnehmen und ein Teil sich über Video zuschalten. „Für alle ist die Kantine zu klein, um 1,5 Meter Abstand zu halten. Deshalb fragen wir alle mit PC-Arbeitsplatz, ob sie von dort teilnehmen können“, sagt Sigrun Krussmann. Sie wird aus der Arbeit des Betriebsrats berichten, über die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen, über Schichtpläne, Abmahnungen, die Monatsgespräche mit dem Werkleiter und über viele andere Themen. Das alles packt sie jetzt in eine Präsentation.
Schwierige Verhandlungen
Die Woche beginnt anstrengend für den Betriebsratsvorsitzenden Wolfgang Eschen. Auf der Agenda stehen Verhandlungen um einen neuen Haustarifvertrag. „Da muss ich mir für heute nicht mehr groß was anderes vornehmen“, sagt er. Herzlich begrüßt er den Oldenburger IG-BAU-Sekretär Thomas Jackmuth, der wie Eschen und seine acht Betriebsratskollegen, allesamt Mitglieder der IG BAU, der Verhandlungskommission auf Arbeitnehmerseite angehört. Gefordert werden 5,8 Prozent mehr Lohn und Gehalt für 2022 sowie eine steuerfreie Coronaprämie von 1500 Euro. Ziel ist, die Lücke zum Flächentarif im Bauhauptgewerbe zu schließen. SPIE in Wiesmoor hinkt dem Flächentarif bereits seit 15 Jahren hinterher – langfristige Folge eines Interessenausgleichs, der damals bei dem insolventen Vorgängerunternehmen vereinbart worden war. Jetzt, wo die Firma wieder gut läuft, wollen die Beschäftigten nicht länger verzichten.
Wochenendarbeit angesagt
Ein Kollege informiert die Betriebsrätin, dass zurzeit Freiwillige für Wochenendarbeit im Februar gesucht werden. Da SAP umgestellt wird, muss vorgearbeitet werden. „Die Logistik, der Einkauf, der Service – alles hängt von SAP ab“, sagt Sigrun Krussmann. „Wenn es wegen einer Umstellung eine Woche nicht läuft, muss der Betrieb ja trotzdem weitergehen.“ Wochenendarbeit ist grundsätzlich mitbestimmungspflichtig. Solange sich Beschäftigte freiwillig melden, hat der Betriebsrat nichts dagegen. Aber Konflikte kann er nur lösen, wenn es eine Vereinbarung gibt.
E-Bikes über die Firma
In der Belegschaft kam schon vor längerer Zeit der Wunsch auf, E-Bikes über die Firma zu leasen. Mit der Gewerkschaft NGG hat der Betriebsrat bereits alles geklärt. Jetzt soll ein Haustarifvertrag erarbeitet werden. Doch die Betriebsratsvorsitzende stellt das Projekt erst einmal zurück. „Ich möchte noch mal mit der NGG reden, ob wir nicht gleich einen Tarifvertrag für die deutsche Zuckerindustrie vereinbaren können.“
Respektvoller Umgang
Wer zum Betriebsrat will, muss in Wiesmoor an den Zimmern der Vorgesetzten vorbei. Doch das ist kein Problem. Niemand wird hier schief angesehen, wenn er zum Betriebsrat geht. Das Betriebsklima ist gut, die Arbeitnehmervertretung genießt großen Respekt. Eschen aber weiß noch genau, dass das nicht immer so war. Im Plausch mit seinem Stellvertreter Reinhard Faß erinnert er sich, wie sie den Betriebsrat 2005 gegen große Widerstände beim Vorgängerunternehmen gründeten. Konspirative Treffen und nächtliche Flugblatt-Verteilaktionen in den Büros inklusive. So etwas ist jetzt nicht mehr nötig.
Streit ums Geld
Ein Kollege aus dem Betrieb meldet sich, der für seine Arbeit besser bezahlt werden will. Wolfgang Eschen verabredet mit ihm ein Treffen. Um bewerten zu können, ob der Kollege möglicherweise in eine höhere Entgeltgruppe eingruppiert werden muss, braucht er erst einmal detailliertere Angaben.
Corona kommt in der Ausbildung an
Ein Auszubildender hat sich beschwert, dass er trotz Prüfungsvorbereitung in den Betrieb kommen sollte. Sigrun Krussmann will kurz in der Ausbildung nachfragen, ob die Sache geklärt ist. Doch dazu kommt sie nicht: Corona ist auch dort angekommen. Am Morgen hat sich ein Auszubildender positiv getestet und ist gleich zu Hause geblieben. Da er in der Vorwoche nicht im Betrieb war, können alle anderen bleiben. „Zwar müssen geboosterte Kontaktpersonen nicht in Quarantäne“, sagt Sigrun Krussmann, „aber wir haben mit dem Arbeitgeber vereinbart, dass sie bezahlt zu Hause bleiben und erst nach einem negativen Testergebnis zurückkommen.“
Immer mehr fallen aus
In der täglichen Betriebsratsbesprechung geht es um den Schichtplan. Mehrere Kollegen sind ausgefallen. Die Coronafälle häufen sich. Bisher konnten sie in Nordstemmen jeden Ausfall überbrücken. Doch keiner weiß, wie lange das noch funktioniert. „In einem Schwesterwerk sind so viele ausgefallen, dass einige Kollegen zehn Stunden arbeiten mussten“, sagt Sigrun Krussmann. Im Moment hofft sie nur, dass alle bis zum Ende der Kampagne durchhalten. Dann ist die Rübenkampagne vorbei, und der Betrieb entspannt sich, bis im März die Dicksaftkampagne beginnt. „Kampagne“ nennen sie bei Nordzucker die Zeit, in der die Maschinen rund um die Uhr laufen, sieben Tage die Woche, wenn von Mitte September bis Ende Januar rund 200 000 Tonnen Rüben zu Zucker verarbeitet werden.
Betriebsvereinbarungen
Wolfgang Eschen wählt sich ein in eine Videokonferenz mit einem Anwalt für Arbeitsrecht. Der Jurist führt für den Betriebsrat die Verhandlungen um Betriebsvereinbarungen. Gleich drei Entwürfe sind zu besprechen, bei allen geht es um Fragen der Digitalisierung. Allein im letzten Jahr wurden fünf Betriebsvereinbarungen zur Nutzung neuer Software oder zur Einrichtung einer elektronischen Schließanlage abgeschlossen. „Wir müssen ausschließen, dass das zur Überwachung der Beschäftigten missbraucht werden kann“, sagt Eschen. Daher wurde festgelegt, dass der Arbeitgeber Daten nur gemeinsam mit dem Betriebsrat ansehen darf – und nur dann, wenn der Verdacht eines groben Vergehens oder einer Straftat besteht.
Betriebsratssitzung
Ganz früh, um 7.45 Uhr, trifft sich der Betriebsrat zu seiner monatlichen Sitzung. Das Gremium tagt immer freitags, dann sind die Leute am ehesten abkömmlich. Auf der Tagesordnung steht die Zustimmung zu zwei Neueinstellungen. Kündigungen hatte der Betriebsrat, seit SPIE 2018 den Betrieb in Wiesmoor übernahm, noch nie auf dem Tisch. Außerdem geht es um den Wunsch nach einem Defibrillator im Betrieb und um die anstehenden Betriebsratswahlen. Ein Generationswechsel muss in die Wege geleitet werden: Mehrere Mitglieder, darunter auch der Vize Reinhard Faß, treten aus Altersgründen nicht noch einmal an. Auch für Eschen, der 58 ist, wird nach der nächsten Wahlperiode wohl Schluss sein.
Zu wenig Abstand beim Umkleiden
Das Büro von Sigrun Krussmann liegt direkt neben der Kantine, und so schauen Kolleginnen und Kollegen oft mal schnell bei ihr vorbei, wenn sie ein Problem haben. Angesichts der steigenden Coronazahlen fühlt sich ein Kollege in den Umkleiden nicht mehr sicher. Dort kann der Abstand nicht eingehalten werden, wenn sich an jedem Spind jemand umzieht. Die Betriebsrätin klärt das Problem mit der Hygienebeauftragten und dem Werkleiter.
Schwanger – und jetzt?
Eine Kollegin erzählt der Betriebsrätin, dass sie schwanger ist. In der Produktion kann sie jetzt nicht mehr arbeiten. Durch die großen Zentrifugen schwingt die ganze Halle. „Als ich noch nebenan im Labor gearbeitet habe, konnte ich die Schwingungen selbst dort spüren“, erzählt Sigrun Krussmann. Irgendwann habe die Arbeitsmedizin festgestellt, dass die Schwingungen dem Ungeborenen schaden können. Seither dürfen Schwangere nicht mehr in der Produktion arbeiten. Die Betriebsrätin gratuliert der werdenden Mutter und erklärt ihr, was sie jetzt tun muss.
Equal Pay
Auf dem Flur trifft Wolfgang Eschen zufällig eine Kollegin, die der Betriebsrat bei ihrem Kampf um Equal Pay unterstützt hat. Schon seit geraumer Zeit hatte sie die gleiche Arbeit geleistet wie ihr männlicher Vorgesetzter, hatte ihn bei Abwesenheit vertreten. Trotzdem war sie schlechter eingruppiert. Sie wandte sich an den Betriebsrat, gemeinsam protestierte man beim Vorgesetzten. Mit Erfolg: Jetzt verdient die Kollegin genauso viel wie die Männer.
Mit dem Auto zur Baustelle
Zu Wolfgang Eschens Arbeit gehört es, mit dem Auto Baustellen von SPIE in Ostfriesland zu besuchen. Das ist zeitaufwendig, aber unverzichtbar, um für alle Kollegen ansprechbar zu bleiben. Auf dem Firmengelände in Wiesmoor arbeitet nur ein kleiner Teil der Belegschaft. Eschen fragt nach Problemen, informiert über aktuelle Entwicklungen. Und er hat ein Auge darauf, dass Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz eingehalten werden. Das liegt ihm besonders am Herzen: Bevor er Betriebsratsvorsitzender wurde, war er Fachkraft für Arbeitssicherheit.
Urlaubsgrüße
Ein Kollege schickt eine Mail mit Foto aus dem Urlaub: Sonne, Strand und Meer. Darunter steht: „Seit 30 Jahren in der Zuckerindustrie und das erste Mal Urlaub im Winter. Danke!“ Dieses Dankeschön hat der Betriebsrat vor der Einigungsstelle erkämpft. Jahrzehntelang galt während der Kampagne absolute Urlaubssperre. Kein freies Weihnachten, kein freies Silvester, kein Urlaub im Winter. Seit vergangenem Jahr dürfen die Beschäftigten nun auch in der Kampagne zehn Tage freinehmen.
Hygienerundgang
Der Sicherheitsrundgang mit der Hygienebeauftragten steht jeden Donnerstag im Kalender. Auf dem Weg durch Produktion, Labor und Verwaltung wird kontrolliert, ob die Fluchtwege frei und alle Geräte ordnungsgemäß geprüft sind. „In einem Lebensmittelbetrieb steht Hygiene auch jenseits von Corona an erster Stelle“, sagt Sigrun Krussmann. Alle müssen Hauben tragen, die weiße Kleidung muss sauber sein, und regelmäßiges Händewaschen war schon immer Standard. Es gibt nichts zu beanstanden: Die Gänge sind frei und sauber, die Arbeitskleidung sitzt korrekt und leuchtet weiß.
Urlaubsstreit
Ein Kollege ruft an, weil sein Bauleiter für den gesamten Monat Urlaub in den Dienstplan geschrieben hat – ohne jede Rücksprache. „Das geht natürlich gar nicht“, sagt Wolfgang Eschen. Normalerweise rät er Beschäftigten, erst einmal selbst das direkte Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen. Das funktioniere meist ganz gut. Doch das hat der Kollege schon vergeblich versucht. Eschen sagt deshalb zu, sich der Sache anzunehmen.
BEM-Gespräche
Im Betriebsratsbüro spricht Wolfgang Eschen mit Kollegen, die nach längerer Krankheit an den Arbeitsplatz zurückgekehrt sind und jetzt das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) durchlaufen. Solche Gespräche muss er oft führen. Gerade im Tiefbau ist die Arbeit sehr hart. Zugleich wächst der Altersdurchschnitt der Kollegen. So mehren sich Rückenprobleme oder Knieschäden. Es wird immer schwieriger, Nachwuchs für den Knochenjob zu gewinnen. Eschen hilft dabei, für die Älteren Hilfsmittel oder einen anderen Arbeitsplatz zu organisieren. Und er versucht, den Betroffenen die Scheu vorm Schwerbehindertenstatus zu nehmen. „Das hat nur Vorteile“, sagt er. Bei einer Behinderung von 50 Prozent kann man zwei Jahre früher abschlagsfrei in Rente gehen.
Die Unternehmen
Der süße Konzern: Die Nordzucker AG gehört zu den führenden Zuckerproduzenten in Europa. Das Unternehmen sitzt in Braunschweig und zählt neben sechs Produktionswerken in Deutschland 13 weitere in Dänemark, Schweden, Finnland, der Slowakei, Litauen, Polen und Australien. Weltweit beschäftigte der Konzern im vergangenen Jahr rund 3800 Menschen. Das Unternehmen produzierte 2,7 Millionen Tonnen Zucker und machte einen Umsatz von 1,67 Milliarden Euro.
Der Versorgungsspezialist: Bei SPIE in der ostfriesischen Kleinstadt Wiesmoor arbeiten knapp 300 Beschäftigte in zwei Firmen. Die SPIE Versorgungstechnik GmbH verlegt als Tiefbauunternehmen Leitungen für Gas, Wasser, Strom und Telekommunikation in der Region. Die SPIE Gastechnischer Service GmbH bietet Dienstleistungen für Gasversorger bundesweit an. Der Betriebsrat ist für beide Firmen zuständig. Als Töchter des französischen SPIE-Konzerns firmieren sie seit 2018. Bis dahin waren sie Teil des örtlichen Bauunternehmens Bohlen & Doyen, das nach einer Insolvenz mehrfach den Besitzer wechselte und aufgespalten wurde.