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Mitbestimmung in Europa: "Eine Just Transition wird mehrheitsfähiger"

Seit Jahren kämpfen Gewerkschaften für eine Stärkung der Arbeitnehmer:innenbeteiligung in Europa. Ein vom Europäischen Parlament verabschiedeter Bericht könnte hierfür ein weiterer wichtiger Schritt sein, meint EWSA-Mitglied Norbert Kluge.

[16.12.2021]

Das EU-Parlament hat heute einen Maßnahmenkatalog verabschiedet, mit dem die Demokratie am Arbeitsplatz gestärkt werden soll. Worum geht es dabei und wie ist das zu bewerten?

Norbert Kluge: Die europäische Politik hat sich zu einem Green Deal verpflichtet. Bis 2030 sollen die klimaschädlichen Emissionen um mindestens 55 Prozent reduziert werden. Um diesem politischen Masterplan Nachdruck zu verleihen, ließ die EU-Kommission mit Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten das Fit-for-55 Aktionsprogramm folgen.

Die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte ist ein wichtiger Teil davon. Die Europäische Politik zeigt damit: Ohne soziale Dimension und stärkere Arbeitnehmer:innenrechte wird der Green Deal keine Realität.

Mit der mehrheitlichen Zustimmung zum Initiativbericht „Mehr Demokratie am Arbeitsplatz“ der EU-Parlamentarierin Gabriele Bischoff sendet das Europäische Parlament jetzt ein eindeutiges Signal für die konkrete Gestaltung der sozialen Dimension der sozial-ökologischen Transformation. Aus meiner Sicht steckt in dem klaren Votum für den Bericht (mit 503 Pro-Stimmen und 107 Contra-Stimmen bei 72 Enthaltungen) eine große Chance, den sozialen Fortschritt in Europa konkreter werden zu lassen.

Welche Vorhaben begründen diese Zuversicht?

Es ist die Stärke des Berichts, dass er soziale und gesellschaftliche Ziele mit dem europäischen Gesellschaftsrecht verbindet. Er setzt einerseits das Thema der Arbeitnehmer:innenbeteiligung als demokratisches Gestaltungsprinzip in den breiteren Kontext des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene.

Andererseits fordert er die EU-Kommission dazu auf, konkrete rechtliche Rahmenbedingungen für die Unternehmensführung zu setzen, etwa über eine Richtlinie zu einer nachhaltigen Unternehmensführung und zu verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten.

Er fordert zudem eine EU-Richtlinie, die Mindestnormen für die Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung setzt, wenn Unternehmen europäische Gesellschaftsrechtsformen wie die europäische Aktiengesellschaft SE anwenden oder andere Rechtsmöglichkeiten zur grenzüberschreitenden Mobilität von Unternehmen nutzen.

Außerdem soll der Europäische Betriebsrat rechtlich so gestärkt werden, dass er sich wirksam und rechtzeitig bei Umstrukturierungen von Unternehmen einbringen kann.

Kann man also auch von „echtem Fortschritt" in Sachen Mitbestimmung sprechen?

Der Parlamentsbericht nimmt erkennbar empirische Evidenz auf, die aus vielfältigen Studien resultiert. Darunter sind auch Studien, die die Hans-Böckler-Stiftung gefördert oder selber gemacht hat.

Die Forschung zeigt: Mitbestimmung trägt zur Produktivität und Handlungsfähigkeit von Unternehmen bei. Mitbestimmte Unternehmen kommen besser durch Wirtschaftskrisen und Transformationsphasen, wie Ökonomen der Universitäten Göttingen und Marburg empirisch ermittelt haben. Personalfreundliche Maßnahmen sind eher in mitbestimmten Unternehmen zu finden.

Nationale Mitbestimmung soll durch europäisches Recht weder ausgehebelt noch umgangen werden dürfen. Wenn Unternehmen, die in Deutschland operieren, die jeweiligen Schwellenwerte der Mitbestimmungsgesetze erreichen, sollen sie also, anders als jetzt, gezwungen werden, ihre Vereinbarungen zur Arbeitnehmer:innenbeteiligung entsprechend anzupassen.

Es gibt gute Gründe, die Unternehmensberichterstattung um soziale und ökologische Indikatoren zu erweitern und so Unternehmen in die gesellschaftspolitische Verpflichtung zu nehmen.

Es ist gut zu sehen, dass diese Erkenntnisse, die die Hans-Böckler-Stiftung seit Jahren gesammelt und vermittelt hat, nun auch in Europa angekommen sind. Wer gute Vorgaben aus Europa schafft, der kann auch die Mitbestimmung zu Hause besser verteidigen und weiterentwickeln. Nun geht es darum, die heutige Vorlage aus Straßburg zu nutzen und nach beiden Enden stark zu machen.

Welche Auswirkungen erhoffst Du Dir von dem Bericht?

Das gewerkschaftliche Ziel einer „Just Transition“, also einer gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation durch mehr Demokratie und Mitbestimmung in der Wirtschaft, wird damit mehrheitsfähiger in Europa. Die Chance auf offene Ohren in der EU-Kommission ist jetzt gewachsen. Und damit die Chance, dass nach den beiden Großbaustellen einer EU-Richtlinie zum Mindestlohn und zur Verbesserung der Stellung von Plattformarbeiter:innen nun auch die stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer:innen Europas durch wirksame Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung zu einer Gesetzesinitiative wird.

So viel politisch gewolltes soziales und demokratisches Europa erleben wir alle Jubeljahre nur einmal. Insofern ist für mich der heutige 16. Dezember ein Festtag: Kein Green Deal ohne Social Deal - mehr Demokratie in der Arbeitswelt als Voraussetzung und Treiber fürs sozialere und demokratischere Europa!

Dr. Norbert Kluge ist Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und ehemaliger Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung.

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