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Green New Deal der EU wird vorgestellt Service aktuell

European Green Deal: „Von oben nach unten verordnen funktioniert nicht“

Die EU will mit ihrem Green Deal den Klimaschutz vorantreiben. Der Politikwissenschaftler Ulrich Hilpert erklärt, warum bei der Umsetzung soziale Aspekte und regionale Besonderheiten berücksichtigt werden sollten.

[16.03.2022]

Die Europäische Union hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt und einen European Green Deal verkündet. Ist das auch ein sozialer Deal? Oder erwächst daraus eine Gefahr für den sozialen Frieden, wenn man etwa an die Gelbwesten in Frankreich denkt?

Der Green Deal ist wichtig, weil Klima und Umwelt die Menschen unmittelbar betreffen. Doch der soziale Deal ist grundlegend, und dieser Deal muss erst noch etabliert werden. Damit er gelingt, kommt es darauf an, die Menschen frühzeitig einzubinden und da abzuholen, wo sie sind - und Lösungen immer so zu finden, dass sie auch zu den jeweiligen Situationen passen. Und die sind in Europa sehr unterschiedlich.

In einer Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses heißt es ausdrücklich: Es wird keinen grünen Deal ohne integrierten sozialen Deal geben. Warum ist das so, kannst Du das erläutern?

Das war die Forderung, die über die Gewerkschaften eingebracht und dann auch von den Unternehmen mitgetragen wurde. Wenn es zu Friktionen kommt, wenn Konflikte aufbrechen, dann wird diese Umgestaltung nicht funktionieren. Es geht eben nicht nur um einen Green Deal. Es darf nicht sein, dass die Menschen möglicherweise in einer sauberen Umwelt leben, aber ohne Arbeit. Es geht um einen Green Deal für eine moderne Industriegesellschaft.

Wo sind Konflikte und Friktionen zu erwarten?

Die Friktionen würde ich weniger in den jeweiligen Betrieben erwarten als entlang der Liefer- und Wertschöpfungsketten und bei der Frage der Umsetzung. Also beispielsweise die Forderung, dass jeder den CO2-Ausstoß um 55 Prozent reduzieren muss. Das ist so kaum zu realisieren und es ist zu befürchten, dass es in strukturschwachen Gebieten zu erheblichen Problemen führt. Es kommt darauf an, dass jeder umsetzt, was möglich ist. Aber es kommt nicht darauf an, dass jeder individuell die 55 Prozent schafft, sondern die gesamte Wertschöpfungskette das erreicht.

  • Ulrich Hilpert ist emeritierter Politikwissenschaftler an der Universität Jena
    Prof. Dr. em. Ulrich Hilpert ist Böckler Senior Fellow und war langjähiger Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Jena.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um den Green Deal sozialverträglich zu machen?

Unser Argument war, dass man nicht im Nachhinein die Folgen ausgleicht, sondern die Prozesse im Vorhinein gedacht werden. So überlegt man dann, wer kann an welcher Stelle wie viel reduzieren. Das kann auch den Transport betreffen, denn es geht nicht nur um die Herstellung der Güter, sondern die müssen dann zwischen den verschiedenen Akteuren transportiert werden. Den Transport kann man auch günstiger gestalten. Das gilt insbesondere für multinationale Konzerne mit verschiedenen Produktionsstätten. Hier haben auch Gewerkschaften Möglichkeiten, über internationale Betriebsräte oder Aufsichtsräte einzuwirken. Mitbestimmung ist eine wichtige Frage für die Realisation. Und dann kann beispielsweise ein Standort in Deutschland oder Frankreich mehr als die 55 Prozent CO2-Reduzierung erreichen, aber vielleicht in Andalusien oder Süditalien weniger. Trotzdem kann das unter dem Strich zum gewünschten Ziel führen.

Es geht also darum, von vornherein nicht nur die soziale, sondern auch die regionale Dimension mitzudenken?

Genau. Es geht nicht darum, dass man in manchen Ländern die Kohlekraftwerke erhalten müsste. Stattdessen muss den Ländern geholfen werden, denen es schwerer fällt, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Nehmen wir beispielsweise Polen, das rund 85 Prozent seines Stroms aus Kohle bezieht. Da kann man jetzt nicht sagen: Demnächst macht ihr alles ganz anders. Hier muss man solidarisch unterstützen. 

Im deutschen System mit den starken Bundesländern können die Regionen viel gestalten. In einem zentralistischen Land wie Frankreich ist das anders.

Ulrich Hilpert

Welche Rolle können die Regionen spielen? Bisher geht das Ganze von oben aus, von der EU-Kommission oder von den EU-Staaten. Der Green Deal wird top-down verordnet. Können die Regionen selbst eine aktive Rolle spielen?

Wie stark die Regionen eingebunden sind, hängt natürlich vom jeweiligen Regierungssystem ab. Wenn man ein System wie in Deutschland mit den starken Bundesländern hat, dann können die Regionen viel gestalten. In einem starken, zentralistischen Land wie in Frankreich ist das anders. Aber eins ist auch klar: Die Situation ist sehr, sehr unterschiedlich. Und zwar nicht nur zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch innerhalb dieser Länder. Der typische Fall dafür ist Italien. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen Nord- und Süditalien. Das spiegelt das europäische Problem, und damit wird aber auch deutlich, dass es keine einheitliche Lösung gibt, die man von oben verordnen kann. Es gibt Lösungen, die von unten nach oben entwickelt werden - und die können dann „top down“ koordiniert und finanziert werden.

Gibt es Beispiele, wo das funktioniert hat?

Ja, der Strukturwandel im Ruhrgebiet. Die Reinigung von Luft, Wasser und Böden hat eine moderne Umwelttechnik entstehen lassen, die Politik des Strukturwandels ist auch im Kontext der Gründungen von Universitäten zu begreifen. Nicht umsonst stehen die TU in Dortmund oder die Ruhr-Universität in Bochum sehr gut da. Ähnlich gut ist beispielsweise die TU Dresden und das ehemalige Programm Wachstumskerne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Das hat interessante Aspekte.

Welche?

Das Programm der Wachstumskerne hat an bestehenden Kompetenzen angesetzt. Durch die Verknüpfung unterschiedlichster Forschungs- und Unternehmenskompetenzen zu Netzwerken hat es geholfen, neue Entwicklungen an unterschiedlichsten Standorten anzustoßen. Ergänzt wurden diese Potenziale dann durch Kooperationen mit Partnern außerhalb dieser Regionen - so wurden neue Entwicklungen und Anwendungen durch kreative Kooperationen eröffnet.

  • Ein Mann steht an einer Stickmaschine
    Kreative Kooperationen tragen dazu bei, dass der regionale Strukturwandel gelingt. Die Stickerei-Branche zeigt, wie es gehen kann.

Die Stickerei gilt als gelungenes Beispiel einer solchen Kooperation. Kannst Du das erläutern?

Sticken ist die Fähigkeit, ein Material auf ein anderes Material aufzutragen. In der Folge haben sich 17 Firmen und neun Forschungseinrichtungen (vor allem Fachhochschulen) zu einem Netzwerk organisiert, die nötigen Kompetenzen ausgeweitet und mittels Sticken Verbundmaterialien kreiert. Es gelang die Umsetzung spezifischer Applikationen und auch die verbesserte Eignung von Materialien für den Stickereiprozess. Das ermöglicht nun, durch Sticken neue Kombinationen mit Textilien, Plastik, Metall und anderen Stoffe herzustellen und die Anwendungsbereiche zu erweitern. Es kam zu völlig neuen Produkten für Rotorblätter oder in Baustoffe eingestickte Sensoren, Schaltkreise, oder Heizelemente. Damit haben sich für die beteiligten Firmen neue Möglichkeiten im Bereich der Herstellung von Verbundmaterialien für die Bau-, Leichtbau-, und Fahrzeugindustrie sowie medizinische Produkte ergeben. Es konnten sogar neue Märkte erschlossen werden.

Auch Airbus wird in diesem Zusammenhang oft erwähnt. Was hat es damit auf sich?

Airbus ist für mich keine einfache Liefer- oder Wertschöpfungskette, sondern eigentlich eine Innovationskette. Auf vier Ebenen gibt es deutlich über tausend Zulieferer. Airbus erwartet von diesen Unternehmen in ihren Lieferungen innovative Beiträge. Auch die Automobilindustrie profitiert bisweilen von diesen Zulieferern, wenn Teile oder Materialien, die bei Airbus Verwendung finden gemacht wurden, in den Autos eingebaut werden - und ggf. auch ökologisch sinnvoll sind.

Kann Airbus ein Vorbild für Innovationen in anderen Branchen sein?

Vorbildlich ist die Organisation von Airbus. Es geht darum, ein Unternehmen und seine Lieferketten so zu arrangieren, dass Technologie und Innovation entstehen kann. Insofern also auch Öko-Technologien, Öko-Innovation. Es geht nicht nur um die Technologie, sondern es geht auch um das Management.

Damit sind wir wieder bei den Arbeitnehmer:innen und ihren Gewerkschaften. Was können sie beitragen? Wie können sie in die Transformation eingebunden werden?

Bei deutschen Multis gibt es günstige Voraussetzungen - da sind die internationalen Betriebsräte, die unmittelbar mitwirken können und die wichtige Regelung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat.

Und anderswo?

Es gab einmal eine Studie, wonach bei Philips 50 Prozent der Innovationen von Arbeitnehmer:innen angestoßen wurden. Ein anderes Beispiel ist die LKW-Fertigung in Ludwigsfelde bei Daimler-Benz. Da wurde vieles verändert. Und zwar nicht nur an der Konzeption des Autos, sondern auch bei der Umsetzung in der Produktion. Da kommt es schon mal vor, dass die Arbeitnehmer:innen sagen, wenn wir das so machen, dann brauchen wir diese drei Schrauben nicht mehr, womit sich der Ablauf und die Kosten verändern. Die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen sind wichtige Akteure - auch bei der klimafreundlichen Innovation.

Die Fragen stellte Eric Bonse. Das Interview wurde Ende Februar 2022 geführt.

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