Quelle: HBS
Böckler ImpulsGesellschaft: Zusammenhalt in Gefahr
Der Ukrainekrieg und die steigende Inflation bereiten vielen Menschen große finanzielle Sorgen. Diejenigen, die schon unter der Pandemie gelitten haben, sind wieder am stärksten betroffen.
Die Unsicherheit in der Bevölkerung ist aktuell größer als zu jedem Zeitpunkt in der Coronakrise – jedenfalls wenn es um die eigene wirtschaftliche Situation geht. Das zeigt eine Auswertung der repräsentativen Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Fast ein Viertel aller Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden empfindet die eigene finanzielle Lage als „äußerst stark“ oder „stark“ belastend und hat große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation. Unter Erwerbspersonen mit niedrigem Haushaltseinkommen unter 1300 Euro netto im Monat gilt dies sogar für mehr als die Hälfte, in der nächsthöheren Einkommensgruppe zwischen 1301 und 2000 Euro sind es fast 40 Prozent.
Die Sorge um die soziale Ungleichheit in Deutschland ist ebenfalls ausgeprägter als zu früheren Zeitpunkten in der Pandemie: Zwei Drittel der Befragten fürchten, dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, „dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen“. Drei Viertel glauben, dass die Einkommensverteilung infolge des Ukrainekriegs ungleicher wird. Zwar sind die sozio-emotionalen Belastungen, etwa mit Blick auf Familie oder die Arbeitssituation, zuletzt auf das niedrigste Niveau seit Pandemiebeginn gesunken, offenbar, weil Schul-, Kita- und Betriebsschließungen im Moment kein großes Thema sind. Unter dem Strich überwiegt aber die Unzufriedenheit: 70 Prozent der befragten Erwerbspersonen sind aktuell unzufrieden mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung in der Russland-Krise, 64 Prozent äußern sich unzufrieden mit Blick auf die Bewältigung der Pandemie.
„Insgesamt zeigt sich hier das Bild einer stark verunsicherten Gesellschaft, die mit wenig Zuversicht in die Zukunft blickt. Dass auf die Pandemie nun gleich die nächste schwere Krise durch den russischen Angriffskrieg folgt, zehrt an vielen Menschen, die zudem befürchten, dass ihre individuellen Reserven und die des Landes schwinden“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Die Ängste speisen sich nicht nur aus der sicherheitspolitischen Weltlage, sondern in sehr starkem Ausmaß aus materiellen Belastungen und Sorgen. Die sind in den unteren Einkommensgruppen deutlich stärker ausgeprägt.“
Die meisten Sorgen bereiten der erwerbstätigen Bevölkerung aktuell eine mögliche Ausweitung des Ukrainekriegs und steigende Preise. Insgesamt 52 bis 60 Prozent aller Befragten berichten von „äußersten“ oder „starken“ Belastungen durch den Anstieg der Lebensmittel-, Energie- und Kraftstoffpreise. Dies führt jedoch bislang nur teilweise zu Verhaltensänderungen. Beim Pendeln zur Arbeit sehen die WSI-Forscher keine großen Veränderungen gegenüber den Ergebnissen vom Herbst 2021: 75 Prozent der befragten Erwerbspersonen nutzen dazu das Auto. Allerdings denken jetzt 20 Prozent der Auto-Pendler darüber nach, auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen. Außerdem hat sich die Mehrheit vorgenommen, den Energieverbrauch im Haushalt zumindest teilweise zu senken.
Viele Befragte befürchten, dass Preissteigerungen und eine sich allgemein verschlechternde wirtschaftliche Situation langfristige Folgen haben werden: Vier Fünftel haben „einige“ oder „große“ Sorgen um ihre Altersabsicherung, drei Viertel um ihren Lebensstandard. Auffällig ist außerdem, dass viele Befragte sich Gedanken um die hohen Staatsausgaben machen. Im Vergleich dazu weniger verbreitet sind Sorgen, die Arbeitsstelle zu verlieren, oder Ängste um die eigene berufliche Zukunft. „Aktuell treibt also weniger die Sorge um einen Jobverlust die Menschen um als vielmehr, dass sie durch die Inflation mit ihrem Geld nicht mehr über die Runden kommen“, sagt WSI-Experte Andreas Hövermann.
Vor allem Personen in Haushalten mit geringen Einkommen leiden unter den höheren Preisen. Je niedriger die Einkommen, desto größer sind die Sorgen und finanziellen Belastungen. Geringverdienende planen auch am häufigsten, den Energieverbrauch zu senken. „Die Daten zeigen, dass die von der Bundesregierung beschlossenen Entlastungspakete dringend notwendig sind“, sagt Bettina Kohlrausch vom WSI. „Ob sie ausreichen werden, neben den erheblichen finanziellen Belastungen auch die weit verbreiteten Sorgen zu reduzieren, ist aber zweifelhaft. Zumal Rentnerinnen und Rentner, die von den Entlastungsmaßnahmen kaum etwas haben, durch unsere Befragung gar nicht erfasst sind.“ Es sei dringend notwendig, diejenigen, die schon unter der Corona-Pandemie gelitten hätten und nun wieder am stärksten betroffen seien, besonders zu unterstützen. Das sei nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch der Stabilität der Gesellschaft.
Die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung wird seit Frühjahr 2020 durchgeführt. Für die neueste Welle wurden Ende April 2022 rund 6200 Erwerbstätige und Arbeitsuchende online zu ihrer Lebenssituation befragt. Dieselben Personen waren bereits im April, Juni und November 2020 sowie im Januar, Juli und Oktober 2021 und im Januar 2022 interviewt worden, allerdings teilweise nicht mit dem vollständigen Fragebogen. Die Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Bildung und Bundesland repräsentativ ab.