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HBS Böckler Impuls

Sozialstaat: Wunsch nach einem stabilen Netz

Ausgabe 20/2006

Was soll der Einzelne schultern, wie viel Hilfe braucht er vom Staat? Eine Befragung für die Bundesregierung untersucht die Akzeptanz sozialpolitischer Reformen. Deutlich wird: Die Mehrheit der Bevölkerung will auch künftig einen aktiven Sozialstaat.

Die Umgestaltungen der sozialen Sicherungssysteme in den vergangenen Jahren haben den Präferenzen der Bundesbürger kaum entsprochen. Veränderungen, die auf weniger Staat und mehr Verantwortung des Einzelnen zielen, folge die Bevölkerung "nur in Ansätzen". Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die erste Ergebnisse des Forschungsprojektes "Einstellungen zum Sozialstaat" (EZS) veröffentlicht. Wissenschaftler der Uni Frankfurt haben im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 5.025 Interviews ausgewertet, davon 2.531 aus Ostdeutschland. Die Forscher fragen in dem bis 2008 laufenden Projekt nach der Akzeptanz von Reformen, vor allem in der Gesundheitspolitik, aber auch nach den grundlegenden Einstellungen der Menschen zur sozialen Sicherung.

Die Einstellung zum Sozialstaat: Auch wenn der Sozialstaat in der Praxis unter Druck geraten ist - die Akzeptanz eines "umfassenden und kompensatorischen Sozialstaats- modells" ist hoch. Nur12 Prozent der Befragten sind für eine größere finanzielle Beteiligung des Einzelnen. Am ehesten erscheint dies in der Alterssicherung und Pflege vertretbar. Die Deutschen lehnen Eigenverantwortung nicht ab - 88 Prozent sehen die Zuständigkeit für die soziale Sicherung auch bei den privaten Haushalten. Doch die Bereitschaft zur Eigenverantwortung entlässt den Staat nicht aus der Pflicht: Unter den Befragten "dominiert die Vorstellung einer geteilten Verantwortung" von Bürger, Arbeitgeber und Staat, so die Studie. Dabei werde weiterhin dem Gemeinwesen die Hauptverantwortung für die Absicherung in Notfällen zugeschrieben. Über 95 Prozent halten es für eine Aufgabe des Staates, für kranke, Not leidende, arbeitslose und alte Menschen zu sorgen. In früheren Studien lag der Wert bei etwa 90 Prozent.

Die Gerechtigkeitsvorstellung der Bürger begründet den hohen Stellenwert des Sozialstaates. "Die Ergebnisse der EZS-Umfrage zeigen, dass die Akzeptanz von egalitären Verteilungsnormen im Vergleich zur individualistischen Gerechtigkeitsideologie deutlich stärker ausfällt", erklären die Forscher. So seien 80 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die soziale Gerechtigkeit in jüngster Zeit abgenommen habe und die Einkommensunterschiede zu groß seien. Ebenso stimmen 80 Prozent dem sozialstaatlichen Bedarfsprinzip zu, nach dem es am wichtigsten sei, "dass die Menschen bekommen, was sie zum Leben brauchen, auch wenn das Umverteilung bedeutet". Auffällig sind die Unterschiede zwischen West und Ost: Die Ansprüche an den Sozialstaat sind im Osten höher, ein größerer Bevölkerungsanteil nimmt die staatlichen Ausgaben als zu niedrig wahr. Die Bevölkerung in den neuen Ländern habe im Schnitt eine "stärker egalitäre Einstellung", wobei der Wunsch nach einem egalitär-versorgenden Sozialstaat mit zunehmendem Alter häufiger auftritt. Die Forscher sehen hier "ein Indiz für das kognitive Erbe der Sozialisationserfahrungen in der ehemaligen DDR".

Trotz knapper öffentlicher Kassen verlangen nur wenige Befragte eine Kürzung der staatlichen Sozialausgaben: 8 bis 14 Prozent befürworten Einschnitte bei der Sicherung des Lebensstandards. Die meisten plädieren hingegen sogar für eine Ausweitung der sozialstaatlichen Ausgaben - oder mindestens für eine Beibehaltung des gegenwärtigen Niveaus. Dem steht die Sorge um die Verlässlichkeit gegenüber: Nur jeder Zweite äußerte, er habe Vertrauen in die soziale Sicherung. Dabei unterscheiden die Befragten je nach Sparte: Der gesetzlichen Krankenversicherung vertrauen 73 Prozent, auch Unfall- und Pflegeversicherung genießen ein hohes Ansehen. Schlecht schneiden hingegen Rente (36 Prozent) und Grundsicherung für Arbeitssuchende (28 Prozent) ab.

Beispiel Gesundheitsreform: Die 2004 eingeführten Aktivierungselemente sind auf ein geteiltes Echo gestoßen. Nur jeder Vierte befürwortet Kürzungen und Zuzahlungen. Das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung erhält hingegen starke Unterstützung: Knapp 60 Prozent der Bürger stimmen dem Vorschlag zu, das Solidarprinzip auf weitere Einkommensarten auszudehnen - was dem Konzept der Bürgerversicherung entspricht. Das Gegenmodell, Versicherungsbeiträge vom Einkommen zu entkoppeln, findet erheblich weniger Zuspruch.

  • Jeder Zweite sieht den Staat sehr stark in der Verantwortung, wenn es um die soziale Sicherung geht. Zur Grafik
  • In West wie Ost gibt es eine Mehrheit für eine Bürgerversicherung. Zur Grafik

Silvia Krömmelbein, Oliver Nüchter (unter Mitarbeit von Roland Bieräugel):
Bürger wollen auch in Zukunft weitreichende soziale Sicherung,
in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, ZUMA Juli 2006
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