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HBS Böckler Impuls

Industrie: Wenn Autos autonom fahren

Ausgabe 05/2019

Bald könnten fahrerlose Autos zum Straßenbild gehören. Was das für die Autohersteller und deren Beschäftigte in Deutschland bedeutet, zeigen Wissenschaftler in einer aktuellen Studie.

  • Industrie investiert kräftig in fahrerloses Fahren. Zur Grafik

Digitalisierung und selbstfahrende Autos könnten die Automobilindustrie völlig verändern – mit Folgen für den Standort Deutschland. Im schlechtesten Fall könnten dadurch bis 2030 mehr als 100 000 Arbeitsplätze bei deutschen Autoherstellern verloren gehen, schreiben Andrej Cacilo und Michael Haag vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. In ihrer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie haben die Wissenschaftler das potenzielle Marktvolumen für drei Kernbereiche der Digitalisierung – automatisiertes Fahren, vernetztes Fahren und „Mobility-as-a-Service“ – ermittelt. Die Berechnung erfolgte auf Basis aktueller Stückzahlen und Margen sowie Prognosen, die die Forscher aus anderen Studien, Unternehmensdaten und öffentlichen Statistiken abgeleitet haben. Darauf aufbauend haben sie analysiert, wie sich dies auf Wertschöpfung und Beschäftigung am Automobilstandort Deutschland auswirken könnte.

Wenn es um die Zukunft des Automobils geht, denken die meisten an alternative Antriebe: weg vom Verbrennungsmotor, hin zum Elektroauto. Doch von der Digitalisierung und dem vollständig automatisierten Fahren geht möglicherweise ein noch größerer Umbruch aus. Assistenzsysteme sind jetzt schon in der Lage, dem Fahrer eine Vielzahl von Aufgaben abzunehmen. Und im Testbetrieb sind autonom fahrende Autos bereits unterwegs. In wenigen Jahren dürfte die Automatisierung so weit fortgeschritten sein, dass Autos, die ohne Fahrer auskommen, im Serienbetrieb eingesetzt werden können, erklären die Fraunhofer-Wissenschaftler. Sie rechnen damit, dass sich selbstfahrende Autos ab der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre nach und nach durchsetzen werden.

Sollten fahrerlose Fahrzeuge verstärkt zum Einsatz kommen, dürften sich alternative Mobilitätsangebote wie „Ride on demand“ und „Ridesharing“ verbreiten. Im Kern geht es darum, dass sich individuelle Mobilität bei Bedarf jederzeit abrufen lässt, ohne ein eigenes Auto besitzen zu müssen: Wer mobil sein will, bestellt per Smartphone ein fahrerloses Robo-Taxi oder steigt gemeinsam mit anderen in ein Shuttle – er wäre flexibel unterwegs, eventuell sogar günstiger und entspannter als mit dem eigenen Auto. Die fahrerlosen Automobile würden permanent von einem Kunden zum anderen fahren, sie stünden kaum ungenutzt in Garagen oder auf Parkplätzen. Die Akzeptanz für solche Modelle – zusammengefasst unter dem Schlagwort Mobility-as-a-Service – werde steigen, prophezeien die Wissenschaftler, besonders bei kommenden Generationen. Damit könnte sich die gesamte Wertschöpfung rund ums Automobil verändern, so eine These der Forscher. Im Mittelpunkt stünde nicht länger die Herstellung eines Fahrzeugs, sondern das Bereitstellen von Mobilität, also eine Dienstleistung. Vereinfacht gesagt: Ein substanzieller Anteil des Umsatzes wird nicht länger damit verdient, ein Auto zu verkaufen, sondern damit, Menschen zu transportieren. Dass es die Autohersteller auf diesem Feld mit neuen Konkurrenten zu tun bekommen, zeichnet sich bereits heute ab. Jetzt schon mischen IT-Konzerne oder Unternehmen wie Uber beim digitalisierten Fahren mit.

Was bedeutet das für die Beschäftigten in der deutschen Autoindustrie? Das hängt vor allem davon ab, ob die neue Mobilität den bisherigen Individualverkehr ergänzt oder teilweise verdrängt. Die Forscher haben drei Szenarien entwickelt: Im aus Sicht der Automobilindustrie günstigsten Szenario entsteht durch neue Angebote mehr Autoverkehr, ohne dass es auf dem Automobilmarkt zu Substitutionseffekten kommt. Der Fahrzeugabsatz würde zunehmen. Verdrängt würden dagegen Teile des öffentlichen Nahverkehrs. In diesem Fall könnten in der Autoindustrie bis 2030 zusätzlich circa 460 000 Stellen entstehen. Allerdings sei dieses Szenario mit seinen für die Autobauer „sehr optimistischen Annahmen“ eher als „hypothetisches Gedankenexperiment“ zu betrachten. Es zeige aber, so die Wissenschaftler, dass auch neue Potenziale erschlossen und somit sogar zusätzliche Jobs geschaffen werden können. 

  • Die Schritte auf dem Weg zum Auto ohne Fahrer. Zur Grafik

Im zweiten Szenario gehen die Forscher davon aus, dass konventionelle Pkw durch automatisierte Fahrzeuge teilweise verdrängt werden, der Gesamtabsatz aber in etwa gleich bleibt. Immerhin würden in diesem Fall durch das Erschließen neuer Märkte zusätzlich rund 140 000 Stellen entstehen.

Als dritte Variante wurde ein „disruptives Szenario“ betrachtet: Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die bisherigen Pkw mehr und mehr verdrängt werden. Aufgrund der abnehmenden Attraktivität des Produkts „Automobil“ bei der jüngeren Bevölkerung, zunehmender Fahr- und Parkverbote in vielen Städten sowie insgesamt höherer ökologischer Anforderungen sei zu erwarten, dass künftig weniger Menschen ein eigenes Auto kaufen. Auch in der Automobilbranche sei diese Sichtweise verbreitet, erklären die Wissenschaftler und zitieren eine Befragung von Führungskräften aus der Autoindustrie: Danach rechnet fast jede zweite Führungskraft damit, dass die Hälfte der derzeitigen Autobesitzer bis 2025 kein Auto mehr haben will. Eine direkte Folge wären sinkende Absatzzahlen. Auch Stellenstreichungen in der Produktion wären kaum zu vermeiden. „Bei einer großen Bandbreite denkbarer Beschäftigungswirkungen spricht die langfristige Tendenz für den Verlust einer sechsstelligen Zahl von Arbeitsplätzen“, schreiben die Wissenschaftler. Den Berechnungen in ihrem dritten Szenario zufolge wären bis zum Jahr 2030 118 000 Jobs in Gefahr.

„Ein Kennzeichen disruptiver Innovationen ist die Einführung in Nischen, die mit einem zunächst trügerischen Anstieg des Geschäftsvolumens der wesentlichen Akteure einhergeht“, warnen Cacilo und Haag: „Mit dem Durchbruch im Massenmarkt geraten die Marktführer dann jedoch in kürzester Zeit in Schwierigkeiten.“ Ein Beispiel dafür sei die Entwicklung auf dem Kameramarkt. Nach einem Anstieg der Produktion für Analog- beziehungsweise Digitalkameras sei der Absatz mit dem Durchbruch einer neuen Innovation – nämlich hochwertigen Kameras in Smartphones – in den letzten Jahren rapide zurückgegangen. Dass den Autoherstellern ein ähnliches Schicksal vorherbestimmt ist, ist damit aber nicht gesagt. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass sich ihre Berechnungen allein auf die Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung von Pkw beziehen. Andere Faktoren könnten die von ihnen ermittelten Effekte dämpfen, aufwiegen oder verstärken. Besonders gelte dies für die zunehmende Elektrifizierung des Antriebsstrangs. 

Nicht zuletzt hängt die weitere Entwicklung davon ab, wie die maßgeblichen Akteure die Zukunft gestalten. Sowohl die Industrie als auch die Arbeitnehmervertreter seien aufgefordert, schreiben die Forscher, schnellstmöglich Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Die Entwicklung der Digitalisierungsstrategie müsse eine zentrale Rolle für die Unternehmen einnehmen. Neben der Produktion müssten die Autohersteller stärker auf Dienstleistungen beziehungsweise „hybride Produkte“ setzen. Aufgrund der hohen Marktmacht und der Finanzstärke der potenziellen Wettbewerber sei die deutsche Automobilindustrie außerdem gezwungen, mit- und untereinander zu kooperieren – ein „Silo-Denken“ dürfe es nicht geben. Ein Vorteil sei dabei der Zugriff auf die Fahrzeugdaten, die wirtschaftlich verwertet werden können. Auch die Politik müsse handeln, fordern die Forscher. Zahlreiche Beispiele wie Google, Amazon oder AirBnb belegten, welche Dominanz einzelne Akteure auf digitalen Märkten innerhalb von nur wenigen Jahren aufbauen können. Ein Monopol für Mobilitätsdienstleistungen müsse verhindert werden. Notwendig sei nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Industriepolitik; nur so lasse sich mit den industriepolitischen Aktivitäten anderer Nationen mithalten. Vor allem in den USA seien viele der Privatwirtschaft zugeschriebene Innovationen und technologische Entwicklungen, die in den letzten Jahrzehnten im Silicon Valley vorangetrieben wurden, in hohem Maße von öffentlichen – insbesondere militärischen – Einrichtungen gefördert worden. 

Andrej Cacilo, Michael Haag: Beschäftigungswirkungen der Fahrzeugdigitalisierung. Wirkungen der Digitalisierung und Fahrzeugautomatisierung auf Wertschöpfung und Beschäftigung, Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, Study Nr. 406, November 2018

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