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Wenig Mitbestimmung, viel Überwachung Böckler Impuls

Logistik: Wenig Mitbestimmung, viel Überwachung

Ausgabe 17/2022

Speditionen und Paketdienste setzen zunehmend auf engmaschige Anleitung und Kontrolle ihrer Beschäftigten durch digitale Technik. Ohne Mitbestimmung der Beschäftigten geraten Qualifikation und Autonomie unter die Räder.

Die Logistikbranche ist sehr präsent auf deutschen Straßen: Auf den Autobahnen bevölkern LKW-Kolonnen die rechte Fahrspur, durch die Städte schwärmen von früh bis spät die Zustellfahrzeuge von DHL und Co. Tatsächlich handelt es sich um den drittgrößten privaten Wirtschaftssektor hierzulande, allein in der Güterbeförderung im Straßenverkehr arbeiten 480 000 Menschen, weitere 520 000 bei Post-, Kurier- und Expressdiensten. Die volkswirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors dürfte angesichts des wachsenden Onlinehandels weiter zunehmen, heißt es in einer Studie, die Klaus Schmierl vom Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung gemeinsam mit Pauline Schneider, Olaf Struck und Franziska Ganesch verfasst hat und die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde.

Die Soziologinnen und Soziologen haben untersucht, inwieweit Transportunternehmen digitale Technik einsetzen und was das für die Beschäftigten bedeutet. Den Ergebnissen zufolge ist die Nutzung weit verbreitet, der Nutzen aus Sicht der Fahrerinnen und Fahrer zweischneidig: „Die technisch-digitale und arbeitsorganisatorische Gestaltung dient in erster Linie der Arbeitsvereinfachung, sie erhöht aber auch die Arbeitsverdichtung, Heteronomie und Arbeitskontrolle.“ Den Unternehmen ermöglicht die digitale Steuerung und Standardisierung der Arbeitsabläufe, auch Ungelernte einzusetzen. Statt in qualifiziertes Personal zu investieren, können sie auf eine „globale Reservearmee“ billiger Arbeitskräfte zurückgreifen. Fehlende Mitbestimmungsstrukturen in vielen Unternehmen tragen zu dieser ungünstigen Entwicklung bei. Beim Marktführer DHL, der zur Deutschen Post gehört, tarifgebunden und mitbestimmt ist, sind die Arbeitsbedingungen dementsprechend besser. Doch niedrigere Standards bei wichtigen Wettbewerbern sorgen für Druck auf dem Markt. 

Die Forschenden haben für ihre Untersuchung insgesamt 42 Interviews mit Expertinnen und Experten in Technikunternehmen, Weiterbildungseinrichtungen und Verbänden sowie mit Beschäftigten und Management von Speditionen, Kurier-, Express- und Paketdiensten geführt. Zusätzlich wurden Daten der Erwerbstätigenbefragung des Bundesinstituts für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ausgewertet.

Die Interviewten sind sich einig, dass die Digitalisierung der Logistikbranche weit fortgeschritten ist. Zum Einsatz kommen unter anderem Sensoren für die Verfolgung von Warenströmen und die Überwachung von Warenqualität. Telematiksysteme erlauben die Fahrzeugortung per GPS, Kommunikation zwischen Fahrenden und Zentrale, Routenplanung, Navigation und technisches Fahrzeugmanagement. Digitale Fahrtenschreiber dokumentieren die Lenk- und Ruhezeiten, gefahrene Kilometer und Geschwindigkeit.

Dass die neuen Technologien zu einem transparenten und besser kalkulierbaren Warentransport beigetragen haben, bestätigen auch die befragten Beschäftigten. Dass Dokumente nicht mehr von Hand ausgefüllt werden müssen, sondern sich vieles auf Knopfdruck erledigen lässt, wird von ihnen als Entlastung empfunden. Die permanente Ortung von Fahrzeugen sei in Notfällen durchaus vorteilhaft und erhöhe die Sicherheit. Zudem mache die Anleitung durch digitale Assistenzsysteme die Arbeit einfacher. Tatsächlich ist der Anteil der Berufskraftfahrer und -fahrerinnen, die unter Termin- und Leistungsdruck leiden, zwischen 2012 und 2018 von 61 auf 50 Prozent gesunken.

Bei den Beschäftigten von Kurier-, Express- und Paketdiensten ist die Quote dagegen um elf Prozentpunkte auf 62 Prozent gestiegen. Nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren dürfte das mit den Schattenseiten der Digitalisierung zusammenhängen, die in diesem Bereich besonders ausgeprägt sind. Der technische Fortschritt hat sowohl die Arbeitsmenge als auch das Tempo erhöht, die Zeitfenster für den Transport, das Be- und Entladen sind durch digitalisierte Tourenplanung oft minutengenau kalkuliert. Hinzu kommt, dass digitale Systeme den Fahrenden permanent Liefertermine, Verzögerungen und drängende Nachrichten der Zentrale vor Augen führen. Eine weitere Stressquelle, insbesondere für Ältere und weniger Technikaffine, sind die schnellen Innovationszyklen, die zu einem kontinuierlichen Wandel am Arbeitsplatz beitragen.

Zudem werden die Entscheidungs- und Handlungsspielräume immer kleiner. Vorgegebene Arbeitsschritte sind rigide abzuarbeiten, Eingriffe in die Arbeitsplanung nicht vorgesehen. Laut einem der interviewten Spediteure beschränkt sich der Entscheidungsspielraum seiner Beschäftigten mittlerweile auf „bremsen oder nicht bremsen“. Während LKW-Fahrerinnen und Fahrer sich früher als „König der Landstraße“ fühlen konnten, seien sie heute „Personen, die einen Auftrag nach dem anderen abhandeln, so wie er vorgegeben ist, und zwar genau so“. Kuriere und Kurierinnen haben wegen der Echtzeitkontrolle durch die Zentrale und Zeitfensterzusagen an die Kundschaft keine Möglichkeit mehr, die Reihenfolge der Lieferungen und Pausen eigenständig zu variieren. Die Kompetenzen der Beschäftigten erodieren zum Teil: Navigationsgeräte machen Streckenkenntnisse überflüssig, technische Störungen am Fahrzeug lassen sich wegen der komplexen Elektronik nicht mehr auf eigene Faust beheben.

Die permanente Überwachung durch Digitaltechnik verursacht bei den Betroffenen deutliches Unbehagen. Dass Fahrtenschreiber mittlerweile sogar im Vorbeifahren durch das Bundesamt für Güterverkehr ausgelesen werden können, findet ein befragter Fahrer wie „bei der Stasi“. Um Autonomie zurückzugewinnen, schalten manche Kolleginnen und Kollegen die Telematik regelmäßig aus, sofern das technisch möglich ist. Dass das Unbehagen nicht grundlos ist, bestätigt ein Softwareentwickler in einem der Interviews: „Es geht ganz klipp und klar um Kontrolle. Die vertrauen ihren Mitarbeitern keine fünf Zentimeter.“ Auf dem Markt sind Module, mit denen Telematikdaten für die Leistungskontrolle ausgewertet werden können – und die auch genutzt werden: Eines der untersuchten Speditionsunternehmen vergibt für die Fahrweise Noten, die in die Berechnung der Jahresendprämie eingehen.

Die Tätigkeit ihrer Beschäftigten mithilfe digitaler Technik auf „vereinfachte, knapp zugeschnittene, repetitive Arbeiten“ zu reduzieren, ist laut der Studie für die Logistik-Unternehmen auch deshalb verlockend, weil es kurzfristig den Arbeitskräftemangel abmildern kann. Den Speditionen fehlen aktuell schätzungsweise 45 000 bis 60 000 Fahrerinnen und Fahrer, den Kurier-, Express- und Paketdiensten wird ein zusätzlicher Bedarf von bis zu 60 000 Arbeitskräften in den nächsten fünf Jahren prognostiziert. Steuerungs- und Assistenzsysteme, die Schritt für Schritt durch Arbeitsabläufe führen und sich auf die jeweilige Muttersprache umstellen lassen, ermöglichen es, Migrantinnen und Migranten ohne Qualifikation und Deutschkenntnisse rasch einsatzbereit für die Straße zu machen. Damit deutet sich nach Ansicht der Forschenden ein Abbau von berufsfachlicher Ausbildung an. Die „weit überwiegende Mehrzahl“ der Berufskraftfahrerinnen und -fahrer entscheidet sich bereits heute gegen die dreijährige Ausbildung und für die beschleunigte Grundqualifikation“, die aus 140 Unterrichtsstunden plus einer theoretischen Prüfung besteht. Um für einen Paketdienst zu arbeiten, ist nach Auskunft der Befragten ohnehin in der Regel außer dem Führerschein keinerlei Qualifikation nötig.

Dass die Unternehmen in standardisierte und dequalifizierte Arbeitsplätze statt in Qualifikation und gute Arbeit investieren, liegt der Studie zufolge auch an „großen weißen Flecken in Interessenvertretung und Mitbestimmung“. Betriebsräte gibt es zwar in den großen Speditionskonzernen, in der Masse der mittelgroßen und kleinen Firmen aber nicht. Nur zehn Prozent der Betriebe ab fünf Beschäftigten im Wirtschaftszweig Verkehr und Lagerei sind mitbestimmt. Noch schlimmer sieht es oft bei den Kurier-, Express- und Paketdiensten aus. DHL steht zwar mit 70 Prozent Organisationsgrad und Mitbestimmung vergleichsweise gut da, was sich auch auf die Arbeitsbedingungen auswirkt: Das Unternehmen ist tarifgebunden, bildet selbst aus, die Arbeitsverträge sind in der Regel unbefristet. Doch Konzerne wie UPS und GLS zeichnen sich wahlweise durch „große Gleichgültigkeit oder aggressive Verhinderungspolitik gegenüber Betriebsräten“ aus, viele Wettbewerber setzen auf Soloselbstständige und Subunternehmen mit kleinstbetriebliche Strukturen. Die mobile Arbeitsweise, hohe Fluktuation und Sprachbarrieren erschweren zusätzlich die Ansprache durch Gewerkschaften und den Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen.

Klaus Schmierl, Pauline Schneider, Olaf Struck, Franziska Ganesch: Digitale Logistik, Study der HBS Nr. 477, Oktober 2022

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