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Viele Unternehmen umgehen Mitbestimmung Böckler Impuls

Aufsichtsrat: Viele Unternehmen umgehen Mitbestimmung

Ausgabe 11/2024

Mehr als zwei Millionen Beschäftigten in über 400 Großunternehmen wird die paritätische Mitbestimmung vorenthalten. Die Regierung muss Gesetzeslücken schließen und Sanktionen verschärfen.

Die deutschen Mitbestimmungsgesetze sollen die demokratische Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichern. Doch die Zahl der Unternehmen, die die Mitbestimmung umgehen oder bewusst vermeiden, nimmt stetig zu. Eine Studie von Sebastian Sick vom I.M.U. zeigt, dass 2022 mindestens 2,45 Millionen Beschäftigten die paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsräten vorenthalten wurde. Damit waren rund 300 000 Menschen mehr betroffen als noch 2019.

Viele Unternehmen nutzen Gesetzeslücken zur Umgehung der Mitbestimmung, andere ignorieren sogar geltendes Recht, weil dies nicht wirksam sanktioniert wird. Im Ergebnis hatten zuletzt von 1084 Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten in Deutschland, die nicht dem „Tendenzschutz“ unterliegen, nur noch 656 den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgeschriebenen paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Das entspricht einer Quote von rund 60 Prozent, während es 2019 noch gut 67 Prozent waren. Von den 428 Großunternehmen ohne paritätische Mitbestimmung nutzten 256 mit insgesamt mehr als 1,7 Millionen Beschäftigten in Deutschland legale juristische Tricks, um die Mitbestimmung entweder gezielt oder als Nebeneffekt zu umgehen. Weitere 172 mit mehr als 720 000 Beschäftigten ignorierten das Gesetz rechtswidrig.

Sozialpartnerschaft ernsthaft gefährdet

„Mindestens vier von zehn Großunternehmen verweigern ihren Beschäftigten mittlerweile also die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat“, erklärt Sick. Dadurch sind mittlerweile 111 Unternehmen weniger paritätisch mitbestimmt als vor gut 20 Jahren. Während im Jahr 2015 nur ein Unternehmen im damaligen Dax 30 nicht paritätisch mitbestimmt war, waren es bei der Bildung des Dax 40 im Jahr 2021 bereits zwölf. „Das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft ist hierdurch ernsthaft gefährdet“, warnt der I.M.U.-Unternehmensrechtsexperte, der auch Mitglied der Regierungskommission zum Deutschen Corporate Governance Kodex ist.

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Basis der Studie sind Datenanalysen, die das Institut für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Universität Jena im Auftrag des I.M.U. durchgeführt hat. Ein Team unter Leitung von Walter Bayer hat dafür unter anderem Unternehmensdatenbanken, Jahresabschlussdaten und Handelsregister ausgewertet. Trotz der intensiven Recherche bleibt eine Dunkelziffer. Die Zahlen zur Mitbestimmungsvermeidung beschreiben also eher die Untergrenze des Problems, betonen die Fachleute.

In einigen Branchen, etwa im Facility Management, in der Leiharbeit, im Handel oder im Gesundheitswesen, wird die paritätische Mitbestimmung sogar von einer Mehrheit der Großunternehmen ausgehebelt. So sind allein im Handel mindestens 930 000 Beschäftigte betroffen; in dieser Branche haben nur knapp 28 Prozent der Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten einen mitbestimmten Aufsichtsrat. In der Industrie ist der Anteil der Unternehmen, die eine Form der Mitbestimmungsvermeidung oder -ignorierung betreiben, mit 26 Prozent zwar unterdurchschnittlich. Aber auch hier summieren sich die Zahlen auf mindestens 98 Unternehmen mit mehr als 360 000 Beschäftigten.

Familienunternehmen umgehen häufig Mitbestimmung

Familienunternehmen umgehen oder ignorieren Mitbestimmungsgesetze vergleichsweise oft: 66 Prozent der Unternehmen, die die Mitbestimmung durch Gesetzeslücken umgehen, und 60 Prozent derjenigen, die die Mitbestimmung rechtswidrig ignorieren, sind in Familienbesitz. 

Besonders häufig wird die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) zur Mitbestimmungsvermeidung genutzt: 103 Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland und der Rechtsform der SE oder SE & Co. KG sind nicht paritätisch mitbestimmt. Davon betroffen sind zusammengenommen fast 500 000 Beschäftigte in Deutschland. Prominente Beispiele sind Tesla, Biontech, der Personaldienstleister Kötter, Flaschenpost, das Technologieunternehmen Freudenberg, der Baugerätehersteller Wacker Neuson sowie mit Vonovia und Zalando sogar zwei Dax-Konzerne. „Bei der derzeitigen Rechtslage ist die SE ein Kernproblem für die Partizipation im Aufsichtsrat“, konstatiert Sick.

Neben den Unternehmen, die sich mit juristischen Tricks der Mitbestimmung entziehen, zählen die Forschenden für 2022 mindestens 172 Unternehmen, die aufgrund ihrer Größe und Rechtsform zwar gesetzlich verpflichtet sind, einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat einzurichten, diese Vorgabe aber schlicht ignorieren. Auch diese Gruppe ist stark gewachsen – seit 2019 um fast 60 Unternehmen. Beispiele dafür sind, soweit nach den genutzten Quellen ersichtlich, Rossmann, Ikea Deutschland oder Alnatura.

Mehr Mitbestimmung nutzt dem Standort

„Wenn demokratische Rechte nur auf dem Papier stehen, stellt das sowohl die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaats in Frage als auch die soziale Marktwirtschaft. Mitbestimmung auszuhöhlen ist politisch und ökonomisch ein Riesenfehler, eine Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation“, sagt Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. Zahlreiche ökonomische Studien belegen, dass Unternehmen, in denen die Beschäftigten über Betriebsräte und Aufsichtsräte mitbestimmen, bessere Arbeitsbedingungen bieten. Zudem schneiden sie bei zentralen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen besser ab, verfolgen häufiger ein forschungs- und qualitätsorientiertes Geschäftsmodell, investieren mehr und betreiben seltener legale Steuervermeidung. Und sie agieren messbar nachhaltiger als Unternehmen ohne Mitbestimmung. Nur durch die Sicherung und Weiterentwicklung der Mitbestimmung könne dieser Standortvorteil Deutschlands erhalten werden, so Hay. 

Die Bundesregierung hatte nach der letzten Bundestagswahl angekündigt, einige Gesetzeslücken zu schließen, die die Verhinderung von Mitbestimmung ermöglichen. „Noch sind den Ankündigungen im Koalitionsvertrag keine Taten gefolgt. Doch wenn die Vorhaben umgesetzt würden, wären das zweifellos Schritte in die richtige Richtung“, sagt Jurist Sick. „Sie reichen allerdings nicht aus. Einzelne Schlupflöcher zu schließen, während andere, ähnlich große, offen bleiben, würde zu einem Ausweichen auf andere Vermeidungsstrategien führen – oder, solange Verstöße gegen die Mitbestimmungsgesetze nicht ernsthaft sanktioniert werden, zum Ignorieren der Mitbestimmungspflicht.“

Das I.M.U. zeigt zahlreiche Möglichkeiten auf, wie die Mitbestimmung sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene gestärkt werden kann. So müsse die Ampelkoalition ihre Ankündigung wahr machen und dafür sorgen, dass das „Einfrieren“ eines Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung in eine SE verhindert wird. Außerdem sollte die EU-Kommission eine Rahmenrichtlinie verabschieden, die europaweit generelle Mindeststandards für die Unternehmensmitbestimmung festlegt. Darüber hinaus sollte die sogenannte Drittelbeteiligungslücke geschlossen werden – ein Schlupfloch im Mitbestimmungsgesetz für Kapitalgesellschaften mit 501 bis 2000 inländischen Beschäftigten. Es ermöglicht mittelgroßen Unternehmen, in deren Aufsichtsräten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesetzlich ein Drittel der Sitze zusteht, durch Aufgliederung in eine Holding und verschiedene Tochtergesellschaften die Mitbestimmung zu umgehen. So hatte beispielsweise Wirecard dafür gesorgt, dass keine Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten im Aufsichtsrat als Kontrollinstanz vertreten waren.

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