Quelle: HBS
Böckler ImpulsPrekäre Beschäftigung: Verunsicherung bis in die Mitte
Unsichere Beschäftigung greift um sich. Doch die "Prekarisierung" nimmt nicht nur immer mehr Erwerbstätigen die Hoffnung auf eine planbare Perspektive. Sie verunsichert auch jene Arbeitnehmer, die noch ein unbefristetes Vertragsverhältnis, ordentliches Einkommen und Kündigungsschutz genießen. Ein fruchtbarer Boden für rechtspopulistische Ansichten, sagt Professor Klaus Dörre
"Prekarier" haben keinen normalen Arbeitsvertrag, können von ihrem Lohn kaum leben, Arbeitnehmerschutzrechte höchstens eingeschränkt in Anspruch nehmen und vor allem ihre Zukunft nicht planen. Denn sie wissen nicht, was morgen ist. Über die Merkmale des nach dem französischen Wort precaire - widerruflich, unsicher, auf Bitten gewährt - bezeichneten Phänomens herrscht weitgehend Einvernehmen. Umstritten ist unter den Experten jedoch das Ausmaß. Denn eine verbindliche Definition gibt es bisher nicht. Der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre hat eine Art Typologie des "Prekariats" entwickelt und zugleich erforscht, wie weit die Erosion des klassischen Normalarbeitsverhältnisses inzwischen fortgeschritten ist, wie die Betroffenen damit umgehen und wie sie die Gesellschaft verändert.
Zur "Zone der Prekarität" zählt die Studie rund 14 Prozent der Erwerbstätigen. Das sind 5,4 Millionen Menschen, die sich als Leih- und Zeitarbeiter durchschlagen, als Beschäftigte mit befristetem Vertrag, mit einer unfreiwillig geringen Arbeitszeit, mit Lohn weit unter Durchschnitt. Auf der Grundlage von Interviews, einer Repräsentativbefragung sowie Auswertungen des Mikrozensus teilt Dörre die Betroffenen in drei Kategorien ein:
- "Die Hoffenden" (3,1 Prozent): Sie erleben ihre Arbeit positiv. Denn sie betrachten prekäre Beschäftigung als eine Chance, in einen normalen Job aufzusteigen.
- "Die Realistischen" (4,8 Prozent): Sie sind mal arbeitslos und dann wieder prekär beschäftigt. Sie fühlen Frustration, denn sie erleben "prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement".
- "Die Zufriedenen" (5,9 Prozent): Es handelt sich vor allem um Hausfrauen und -männer, Erziehungsurlauber und Rentner. Sie sind mit ihrer aktuellen Situation durchaus zufrieden. Diese Lebenslage bezeichnet Dörre als "entschärfte Prekarität".
Noch kann man davon sprechen, dass prekäre Beschäftigung von einer Norm abweicht, deren Kennzeichen der unbefristete Vertrag, die tarifliche Absicherung und die Sozialversicherungspflicht sind. Sieben von zehn Arbeitsverhältnissen entsprechen immer noch diesem Standard. Allerdings verbirgt sich dahinter eine dramatische Dynamik bei den jungen Erwerbstätigen: Jeder dritte abhängig Beschäftigte unter 20 Jahren hatte im Jahre 2003 eine befristete Stelle, 1991 war es nur jeder fünfte. "In Nordrhein-Westfalen waren 2003 bereits mehr als 50 Prozent der Erwerbstätigen unter 24 Jahren befristet beschäftigt; die Befristung wird in diesem Alterssegment zur dominanten Beschäftigungsform", berichtet die Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung. In der Bauwirtschaft und im Einzelhandel seien Normalarbeitsplätze inzwischen insgesamt in der Minderheit.
Die Ausbreitung prekärer Beschäftigung ist keineswegs nur ein Phänomen am Rande der Arbeitsgesellschaft. Klaus Dörre und seine Mitarbeiter beschreiben eine Reihe von gravierenden sozialen Folgen:
- Die unmittelbar Betroffenen leiden darunter, dass ihre Zukunft unsicher und das Geld knapp ist, dass sie keine Anerkennung erfahren und kaum sozialen Netzen zugehören. Dörre: "Die anstrengende 'Schwebelage' macht die spezifische Verwundbarkeit prekär Beschäftigter aus. Das alte Glücksversprechen des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, wonach ein Normalarbeitsverhältnis die Basis für langsam aber kontinuierlich wachsenden Wohlstand bildet, ist für die Prekarier außer Kraft gesetzt."
- Die "normalen" Erwerbstätigen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Denn sie erleben in ihrem Umfeld, dass sie durch Externe ersetzbar sind und rasch überflüssig werden können. Die Sorge wird noch verschärft, seit der Sozialstaat mit der so genannten Hartz-IV-Reform den Arbeitslosen nicht mehr den Status sichert, sondern nur noch die Existenz.
- Die bisher vorherrschende gesellschaftliche Einbindung, "die nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auf materieller und demokratischer Teilhabe beruhte", weicht der Disziplinierung durch Angst: "Die Disziplinierung durch den Markt kann, zumal in einer reichen Gesellschaft, eine Vielzahl an Hoffnungen, Ängsten und Traditionen funktionalisieren. Das ist möglich, weil vor allem die Gruppen der Integrierten einiges zu verlieren haben." Diese Prozesse der Prekarisierung, so die Studie, "stellen ein Macht- und Kontrollsystem dar, dem sich in der gespaltenen Arbeitsgesellschaft auch die Integrierten kaum zu entziehen vermögen."
- Nicht nur prekär Beschäftigte, sondern auch andere Erwerbstätige suchen wegen der nachlassenden sozialen Bindekraft von Normalarbeit nach anderen Wegen der Integration. Eine unter vielen Möglichkeiten der Verarbeitung von Unsicherheit: die Forderung nach Ausgrenzung. Zuwanderung zerstöre die deutsche Kultur; Ausländer nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg; gespart werden müsse bei den "Sozialschmarotzern" - solche Einstellungen fand Dörre in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft, auch bei denen mit der höchsten Sicherheit. Er sieht darin "subjektive Brücken zum Rechtspopulismus", der gefährlich werden könnte, "wenn er mit einer akuten Krise der politischen Repräsentation zusammenfällt".
Wie müsste eine Politik aussehen, die der Tendenz zur Spaltung der Arbeitsgesellschaft, dem Ersatz von Teilhabe durch Disziplinierung entgegentritt? Sie muss nach Dörres Überzeugung nicht nur für prekär Beschäftigte entwickelt werden, sondern vor allem mit ihnen: "Eine solche Politik setzt, so paradox das klingen mag, die Anerkennung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse voraus." Prekäre Beschäftigungsverhältnisse seien in Zeiten hoher struktureller Arbeitslosigkeit für viele Menschen die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ziel müsse sein, die Betroffenen "handlungsfähig" zu machen und "flexible Arbeitsformen nicht zu verhindern, sondern ihnen nach und nach den prekären Charakter zu nehmen".
Kein Erfolgsweg ist es, so Dörre, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, um sie zur Aufnahme einer prekären Beschäftigung zu bewegen: "Wer alle Energie darauf verwenden muss, um nicht durch den Rost zu fallen, der will früher oder später den Lohn für seine Anstrengungen ernten. Wird dieses Versprechen nicht eingelöst, droht genau das, was eine 'aktivierende' Arbeitsmarktpolitik eigentlich zu verhindern beabsichtigt: Erschöpfung, Resignation, Verzweiflung, Passivität, Absturz in Armut und Ausgrenzung, im besten Fall ein pragmatisches Arrangement mit Förderpraktiken, die es erlauben, den Kopf halbwegs über Wasser zu halten." Viele Betroffene verfügten in einer solchen Situation gar nicht mehr über die Kraft, sich für die Zukunft zu aktivieren.
Der Wissenschaftler schlägt weiter vor, die Position der "Prekarier" zu verbessern durch
- Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns;
- Existenzsichernde Alterssicherung für Teilzeitkräfte;
- Vorrang von Leiharbeitern und befristet Beschäftigten bei Festeinstellungen;
- Recht zur Teilnahme an Betriebsversammlungen und Betriebsratswahlen;
- Bildung eigener Interessenvertretungen sowie Vertretung der "Außenseiter" bei Tarifverhandlungen.
Insgesamt ist Dörre jedoch skeptisch, wenn es um die Eindämmung der sich ausbreitenden sozialen Unsicherheit "im nachfordistischen Produktionsmodell" geht: Noch seien die Regulationsformen nicht gefunden, mit denen die Wirtschaftskraft wieder zum sozialen Fortschritt genutzt werden könnte.
Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre, Silke Röbenack, gemeinsam mit Klaus Kraemer und Frederic Speidel: Prekäre Arbeit - Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2006. mehr Infos zur Studie
Klaus Dörre: Prekarisierung contra Flexicurity - Unsichere Beschäftigungsverhältnisse als arbeitspolitische Herausforderung, in: Kronauer, Martin/ Linne, Gudrun (Hrsg.): Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, Berlin 2005, S. 53-72. mehr Infos zum Buch