Quelle: HBS
Böckler ImpulsDigitalisierung: Verkaufsplattformen setzen Industriebetriebe unter Druck
In China geben zunehmend digitale Handelsplattformen den Ton an. Die Zulieferer sind kleine Industriebetriebe mit Niedriglohnarbeit.
Digitale Produktionstechnologien führen zu einer gigantischen Arbeitsrationalisierung – mit der Folge großer Beschäftigungsverluste und einer Aufwertung der verbleibenden Arbeitsplätze. Diese Erwartung liegt den meisten Prognosen zur Entwicklung der Produktionswirtschaft zugrunde. Dabei werde stets, so der Industriesoziologe Boy Lüthje, von einer „produktionsgetriebenen“ Dynamik ausgegangen. Das gelte etwa für das deutsche Konzept der Industrie 4.0. Dass sich die Dinge im globalen Maßstab in diese Richtung entwickeln, sei aber längst nicht ausgemacht, argumentiert Lüthje, Professor am Institute for Public Policy der South China University of Technology in Guang-zhou. Zumal die weltweite „anhaltende Investitionsschwäche im Produktionsbereich“ nicht dafür spreche, dass allerorten Roboter installiert werden, um einfache Arbeit zu ersetzen. In China hat der Forscher einen anderen Digitalisierungstrend ausgemacht: Eine „distributionsgetriebene“ Entwicklung, bei der nicht traditionelle Produktionsunternehmen, sondern die Handelsplattformen den Ton angeben und Niedriglohnarbeit in Kleinbetrieben die Regel ist.
Dezentral vernetzte Massenproduktion
Lüthje spricht von Modellen „dezentral vernetzter Massenproduktion“, die das Potenzial haben, „die existierenden Formen globaler Wertschöpfungsketten herauszufordern“. Dabei geht es nicht darum, die Produktivität klassischer Industriekonzerne durch Technikeinsatz zu erhöhen. Vielmehr wird die Produktion durch künstliche Intelligenz, „Cloud Computing“ und elektronische Plattformen, die unter der Bezeichnung „industrielles Internet der Dinge“ firmieren, neu organisiert. Diese Plattformen fungieren als Betriebssysteme, die Kundenwünsche und Produktionsbetriebe zusammenbringen. Ein Beispiel sind die Einzelhandelsplattformen des chinesischen Internetriesen Alibaba, welche „die Produktionsressourcen von zahllosen zumeist kleinen und mittleren Unternehmen durch ein Netzwerk von circa 8,5 Millionen Onlineshops mit den Konsumenten“ verknüpfen. Die zu Alibaba gehörende Plattform Taobao etwa tritt als reiner Vermittler auf, im Gegensatz zu Amazon verfügt sie nicht über eigene Lagerbestände. Alibaba bietet zudem Zahlungsdienstleistungen und Cloud Computing an.
Das zentrale Kennzeichen dieses Modells seien die umfassenden Möglichkeiten kundenspezifischer Produktgestaltung. Es gibt keine Groß- und Zwischenhändler mehr, zwischen Kunde und Hersteller stehen lediglich hart konkurrierende Onlineshops, die nach Preiskriterien und Kundenbewertungen Lieferanten auswählen. Der Bieterwettbewerb ähnele der sogenannten Gig Economy, schreibt Lüthje. Produziert werde beispielsweise in der Kleidungsproduktion in eher kleinen Werkstätten, 24 Stunden am Tag mit extrem kurzen Lieferzeiten. Die Arbeitsorganisation ist nach Lüthjes Analyse häufig „noch stärker informalisiert als in den traditionellen Sweatshops“. Bei entsprechend niedrigen Löhnen und Standards beim Arbeitsschutz. Dieses in den westlichen Ländern bislang kaum beachtete Phänomen könnte zum „herrschenden Modell digitaler Produktion in China und anderen industriellen Entwicklungsländern“ werden.
Boy Lüthje: Plattformkapitalismus Made in China: Digitalisierung der Niedriglohnproduktion?, WSI-Mitteilungen 1/2021