Armut und Ungleichheit: Umverteilung weniger wirksam
Die Menschen in Deutschland wollen mehr Umverteilung – aber der Staat tut zu wenig dafür.
Deutschland hat bei der Bekämpfung der Ungleichheit nachgelassen. Sowohl das Steuersystem als auch der Sozialstaat haben zuletzt weniger dazu beigetragen als in früheren Jahren. Dabei ist der Wunsch nach staatlicher Umverteilung in der Bevölkerung weit verbreitet. Das ist das Ergebnis einer Studie von Dorothee Spannagel und Jan Brülle vom WSI. Die 2010er-Jahre hätten eigentlich gute Voraussetzungen geboten, weniger Einkommensungleichheit zu erreichen und Armut zu verringern – doch trotz des jahrelangen Wirtschaftswachstums und geringer Arbeitslosigkeit sei dies nicht gelungen, so die Forschenden. Daher müsse dieser Zeitraum, in dem zunächst Union und FDP die Regierung stellten, dann Union und SPD, insgesamt als „verlorenes Jahrzehnt“ im Kampf gegen Armut und Ungleichheit betrachtet werden.
Anhand aktueller Daten der WSI-Erwerbspersonenbefragung zeigen Spannagel und Brülle, wie die Deutschen den Sozialstaat bewerten und welche Einstellungen sie zu Ungleichheit haben. Dazu wurden Ende 2024 mehr als 7000 Erwerbspersonen in Deutschland befragt – also Erwerbstätige und Arbeitslose. Durch den Fokus auf Erwerbspersonen bilden die Daten vor allem die Einstellungen derjenigen ab, die den Sozialstaat durch ihre Steuern und Abgaben maßgeblich finanzieren. Zudem greifen die Forschenden auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ab 2010 zurück, um das tatsächliche Ausmaß der Umverteilung zu ermitteln. Beim SOEP handelt es sich um eine jährliche Wiederholungsbefragung, die unter anderem detaillierte Informationen zu den Haushaltseinkommen enthält. Wegen der aufwendigen Datenaufbereitung reichen die aktuellsten verfügbaren Daten nur bis 2021.
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„Auch wenn für die Zeit der Ampelkoalition noch keine repräsentativen Daten vorliegen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Trend seit 2021 gedreht wurde“, sagt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. Einzelne Verbesserungen, zum Beispiel die Einführung und Erhöhung des Bürgergeldes, dürften nicht kompensiert haben, dass der soziale Ausgleich seit Jahren tendenziell abnimmt. „Umso irritierender ist es, dass Forderungen nach Sozialabbau im Bundestagswahlkampf eine erhebliche Rolle spielen. Unsere Forschung und die vieler anderer Institute zeigt, dass Zukunftssorgen und die Angst, künftig im Lebensstandard abzurutschen, in den vergangenen Jahren zugenommen haben und dass solche Sorgen oft mit einer Entfremdung von demokratischen Institutionen einhergehen“, warnt die Soziologin.
Welche Erwartungen haben die Menschen an staatliche Umverteilung? Knapp 50 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Menschen mit geringem Einkommen besser als bisher unterstützt werden sollten. Rund 60 Prozent finden, dass der Staat zu wenig gegen Ungleichheit unternimmt. Nur eine kleine Minderheit stimmt diesen Aussagen ausdrücklich nicht zu. „Menschen in Deutschland wünschen sich also eine starke Rolle des Staates in der Einkommensverteilung“, schreiben Spannagel und Brülle.
Die Meinung, der Staat solle Ungleichheit stärker bekämpfen, ist besonders bei Menschen mit niedrigem Einkommen ausgeprägt und nimmt mit steigendem Einkommen tendenziell ab, wobei die Zustimmung bis in die obere Mitte der Einkommensverteilung überwiegt. Bei der Frage nach möglichen Finanzierungsoptionen sprechen sich die Befragten eher gegen eine grundsätzliche Erhöhung von Steuern und Sozialabgaben aus. „Da ausschließlich Erwerbspersonen befragt wurden, überrascht es nicht, dass die Zustimmung hier niedriger ausfällt als in anderen Erhebungen, in denen die Stichprobe repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist“, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch. Sowohl einer stärkeren Besteuerung von Vermögen als auch einer Anhebung des Spitzensteuersatzes stimmt aber auch eine Mehrheit der Erwerbspersonen zu.
Wie hat sich die Umverteilung faktisch entwickelt? Die Forschenden stellen zunächst fest, dass der Wohlfahrtsstaat und das progressive Steuersystem in Deutschland grundsätzlich funktionieren. Ohne Sozialtransfers gäbe es in Deutschland mehr Armut. Aber: Früher hat der soziale Ausgleich besser geklappt. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 lagen rund 35 Prozent der Bevölkerung mit ihrem Markteinkommen unter der Armutsgrenze, die bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Mit ihrem verfügbaren Einkommen, also nach Steuern und Transfers, waren es nur noch gut 14 Prozent. Durch Umverteilung konnte die Armutsquote damit in jenem Jahr um 59 Prozent gesenkt werden. Im Jahr 2021 lag der Anteil derjenigen, die mit ihrem Markteinkommen unter der Armutsgrenze lagen, mit rund 34 Prozent ähnlich hoch wie 2010. Nach Steuern und Transfers war der Anteil der Armen mit knapp 18 Prozent jedoch deutlich höher. Die Armutsquote wurde 2021 durch Umverteilung nur noch um 48 Prozent gesenkt – der Effekt war also spürbar geringer.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt der sogenannte GiniKoeffizient, der die Ungleichheit der Einkommen misst: Während die Spreizung der Markteinkommen heute ähnlich hoch ist wie früher, ist die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen größer als 2010. Auch dies macht deutlich, dass die staatliche Umverteilung nachgelassen hat.
Woran liegt das? Ein genauerer Blick auf die Daten zeige, so Spannagel und Brülle, dass „vor allem wohlfahrtsstaatliche Leistungen in ihrer armutsschützenden und ungleichheitsreduzierenden Wirkung nachgelassen haben“. So blieb beispielsweise die Entwicklung der Regelsätze der Grundsicherung im Untersuchungszeitraum deutlich hinter der Lohnentwicklung zurück und verharrte vielfach auf einem Niveau, das unterhalb der Armutsschwelle liegt. Auch die staatliche Rente wirkt heute weniger stark gegen Ungleichheit und Armut als früher, was die Forschenden auf eine Kombination aus sinkendem Rentenniveau und fehlender Mindestsicherung im Alter zurückführen. Aufgrund von brüchigen Erwerbsbiografien, Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und Niedriglöhnen müssten mehr Menschen mit geringeren Rentenansprüchen auskommen. Für die zunehmende Anzahl derjenigen, die nicht auf ausreichende Leistungen der Sozialversicherungen zurückgreifen können, seien die bestehenden Grundsicherungsleistungen systematisch zu niedrig, um Armut zu verhindern.
Dorothee Spannagel, Jan Brülle: Weniger Umverteilung: Warum der Sozialstaat schlechter vor Armut schützt, WSI-Report Nr. 99, Februar 2025