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 Stromnetze unter Hochspannung Böckler Impuls

Energiewende: Stromnetze unter Hochspannung

Ausgabe 20/2024

Der Erfolg der Energiewende steht und fällt mit der Umsetzung vor Ort. Die regionalen Energieversorger mit ihren Verteilnetzen sind besonders gefordert. Ob sie den Ausbau der Netze und den notwendigen Personalaufbau stemmen können, ist offen.

Um die Vorgaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien zu erreichen, investieren die regionalen Energieversorgungsunternehmen in Deutschland derzeit massiv in ihre Stromnetze, die sogenannten Verteilnetze. Gleichzeitig stellen sie in großem Umfang neues Personal ein – bis 2028 mindestens 14 000 Beschäftigte. Das zeigt eine Studie von Katrin Schmid und Stefan Stracke vom Beratungsunternehmen wmp consult im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Für ihre Untersuchung haben die Forschenden Statistiken und Branchenanalysen ausgewertet sowie Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern von Betriebsräten und Geschäftsführungen verschiedener Unternehmen geführt. Die Studie, so die Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Christina Schildmann, zeige deutlich, wie stark Arbeitsmarkt und Nachhaltigkeitsziele miteinander verzahnt sind: „Nötig sind neue Allianzen zur Gewinnung von Fachkräften in grünen Berufen. Und wir können deutlich sehen: Mitbestimmte Betriebe liegen durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen klar eine Nasenlänge vorn.“

Als Energieversorger sind in der Öffentlichkeit vor allem die großen Unternehmen wie Eon, RWE, EnBW oder Vattenfall bekannt, die bundesweit oder sogar international tätig sind. Weniger präsent sind dagegen die regionalen Versorger. Dabei stellen sie mit ihren mehr als 800 Verteilnetzbetreibern einen der wichtigsten und zugleich den beschäftigungsintensivsten Teilbereich der Energiewirtschaft in Deutschland dar. Meist handelt es sich um die klassischen Stadtwerke in kommunaler Hand, aber auch um größere private und kommunale regionale Versorger. Viele der größeren regionalen Versorger gehören indirekt zum Energiekonzern Eon. Daneben haben durch die Rekommunalisierungsbewegung in den vergangenen Jahren Anzahl und Größe der kommunalen Versorger zugenommen. 

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Die regionalen Versorger sind häufig selbst Erzeuger von Strom und Wärme. Vor allem aber stellen sie die lokale Infrastruktur bereit, um Energie an die Haushalte zu verteilen – und künftig zum Teil auch wieder ins Netz einzuspeisen. Denn anders als bisher funktionieren die Netze der Zukunft nicht mehr als Einbahnstraße, die vom Kraftwerk über das Verteilnetz zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern verläuft. Durch die zunehmend dezentrale Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien müssen die Stromnetze heute in der Lage sein, Strom in beide Richtungen zu transportieren, also auch Gegenverkehr zu bewältigen. Hinzu kommt die stärkere Vernetzung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität – etwa um elektrische Energie zur Herstellung von Wasserstoff oder E-Fuels zu nutzen. Insgesamt wird die Last in den Stromnetzen deutlich zunehmen, wobei die lokalen Verteilnetze einen „Flaschenhals“ darstellen.

Enormer Investitionsbedarf

Der enorme Ausbaubedarf im Rahmen der Energiewende, der durch die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2023 noch beschleunigt wurde, setzt die Verteilnetzbetreiber unter Zugzwang. Die Bundesnetzagentur schätzt, dass allein die größten von ihnen in den nächsten zehn Jahren einen Gesamtinvestitionsbedarf von rund 110 Milliarden Euro und bis 2045 von gut 200 Milliarden Euro haben werden. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft geht davon aus, dass sich das jährliche Investitionsvolumen der regionalen Energieversorgungsunternehmen in Zukunft vervierfachen bis verfünffachen wird.

Verbunden mit den Rekordsummen, die in den Netzausbau fließen, ist eine Einstellungsoffensive. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Beschäftigten bereits wieder gestiegen und soll weiter steigen. Zu den derzeit mehr als 113 000 Beschäftigten im Bereich Elektrizitätsverteilung sollen nach Angaben der befragten Unternehmen bis 2028 mindestens rund 14 000 hinzukommen. Allerdings klafft nach Personalabbau und Einstellungsstopps in den 2000er- und frühen 2010er-Jahren in vielen Betrieben in der Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen eine Lücke. Die Neueinstellungen der letzten Jahre stopfen zunächst nur diese Lücke. 

Die Gewinnung von Nachwuchskräften und die Verjüngung der Belegschaften ist keine leichte Aufgabe. Finanzierungsunsicherheiten führen vor allem bei kleineren und kommunalen Verteilnetzbetreibern teilweise dazu, dass trotz hohem Bedarf kein Personal eingestellt wird. Die Zahl der Auszubildenden stagniert seit Corona und lag 2023 noch unter dem Niveau von 2013. Die Ausbildungsaktivitäten müssen in den kommenden Jahren deutlich gesteigert werden. Bei der Gewinnung von Auszubildenden sind nach Einschätzung der befragten Expertinnen und Experten Betriebe mit einer Ausbildungstradition und guten Rahmenbedingungen durch Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge deutlich im Vorteil.

Eine Besonderheit der Elektrizitätsverteilung ist der im Vergleich zu anderen Branchen sehr niedrige Anteil geringfügig Beschäftigter von nur zwei Prozent. Das Qualifikationsniveau ist im Branchenvergleich sehr hoch. Neun von zehn sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verfügen über einen qualifizierten Berufsabschluss. 

Gestärkte Betriebsräte

In vielen Fällen drängen die Betriebsräte die Unternehmensleitungen und die Personalabteilungen dazu, sich stärker mit langfristiger Personalplanung zu befassen. Das Onboarding 
vieler neuer Kollegen und Kolleginnen stellt ebenfalls eine Herausforderung dar. Die Neueingestellten müssen in kurzer Zeit eingearbeitet und integriert werden. Dies bedeutet eine höhere Arbeitsbelastung für die bestehende Belegschaft. Auch hier versuchen viele Betriebsräte, initiativ zu werden und mit Entlastungsstrategien gegenzusteuern. „Aus den Themen um Neueinstellungen, Fachkräftegewinnung und Personalplanung ist für die Betriebsräte eine neue Stärke entstanden“, schreiben Schmid und Stracke. Die Branche sei traditionell sozialpartnerschaftlich geprägt. Aber die vielen aktuellen Herausforderungen hätten die Stellung der Betriebsräte gegenüber den Arbeitgebern nach Aussage von Vertreterinnen und Vertretern der Beschäftigten noch einmal gestärkt. Tarifliche Regelungen und Vereinbarungen zu Arbeitszeitmodellen, Ausbildung und guter Arbeit würden von den Unternehmen – oft im Gegensatz zu früheren Jahren – heute eher als Pluspunkt bei der Gewinnung von Fachkräften gesehen. Ein Betriebsrat wird zitiert mit den Worten: „25 Jahre Abwehrkämpfe – erst mussten die Beschäftigten gehen, dann sollten sie gehen und jetzt ist plötzlich alles umgekehrt.“

Ob die Investitionen in Netze und Personal bewältigt werden können, hängt von den Finanzierungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand und der Regulierung ab. Zugleich steigt der Druck insbesondere auf kleinere und kommunale Verteilnetzbetreiber, sich für private Investoren zu öffnen. „Die Gleichzeitigkeit und die Geschwindigkeit der Veränderungen ist für viele regionale Energieversorgungsunternehmen ein großes Problem“, heißt es in der Studie. Die befragten Expertinnen und Experten in den Unternehmen sind sich weitgehend einig, dass es für alle regionalen Energieversorgungsunternehmen schwierig bis wahrscheinlich unmöglich sein wird, die vorgegebenen Zeitpläne für den Netzausbau und -umbau einzuhalten. Sie fordern mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung von der Politik.

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