Quelle: HBS
Böckler ImpulsUnternehmen: Starke Mitbestimmung für ein starkes Europa
Durch Anwendung des europäischen Gesellschaftsrechts können Unternehmen die Mitbestimmung unterlaufen. Dieser Missstand muss behoben werden.
In der Mehrheit der EU-Länder haben Beschäftigte ein Recht darauf, in den Leitungsgremien von Unternehmen mitzubestimmen. Allerdings unterscheiden sich die Regeln je nach Staat deutlich. Dass grenzüberschreitend aktive Unternehmen die Lücken zwischen den verschiedenen Mitbestimmungs-Niveaus ausnutzen, wird durch den europäischen Rechtsrahmen nicht verhindert. Durch die Anwendung des europäischen Gesellschaftsrechts könne die Mitbestimmung „fast beliebig“ unterlaufen werden, erklären Expertinnen und Experten des I.M.U. Eine EU-Rahmenrichtlinie sei dringend notwendig, um Mindeststandards für Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung in Unternehmen zu setzen.
Wie umgehen Unternehmen die geltenden Mitbestimmungsrechte? Ein beliebter Trick ist die Gründung einer Societas Europaea (SE). Die SE ist eine europäische Rechtsform, die in vielen Bereichen der klassischen Aktiengesellschaft entspricht. Sie erlaubt den Unternehmen eine hohe grenzüberschreitende Flexibilität. Aber sie kann auch dazu genutzt werden, Arbeitnehmer aus dem Aufsichtsrat herauszuhalten. Beispiel: Ein deutsches Unternehmen nähert sich dem Schwellenwert von 500 Mitarbeitern, ab dem Arbeitnehmer in Deutschland Anspruch auf Sitze im Aufsichtsrat haben. Vor Erreichen der Schwelle wandelt das Management die Firma in eine SE um. Wächst anschließend die Zahl der Beschäftigten über 500, ist das Unternehmen als europäische Aktiengesellschaft nicht dazu verpflichtet, seinen Beschäftigten Mitbestimmungsrechte einzuräumen. Das gilt sogar, wenn die Zahl der Beschäftigten im Inland später auf mehr als 2000 anwächst und bei deutscher Rechtsform der Aufsichtsrat paritätisch mitbestimmt wäre. Die europäischen Gewerkschaften wollen diese Regelung ändern und einen sogenannten „Escalator“ verankern: Wächst das Unternehmen, muss zwingend neu verhandelt werden. Sonst greifen Mindestregelungen für Mitbestimmung, je nach Größe des Unternehmens. In jedem europäischen Unternehmen ab 50 Beschäftigten sollten zwei bis drei Vertreter der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat sitzen. Bei 250 Beschäftigten sollte ein Drittel des Aufsichtsrates, ab 1000 Beschäftigten die Hälfte der Sitze durch Arbeitnehmer besetzt werden.
Unabhängig von den Schwächen im EU-Recht machen Schlupflöcher im deutschen Unternehmensrecht der Mitbestimmung das Leben schwer. So besteht ein weiterer Trick darin, eine deutsche mit einer ausländischen Rechtsform wie B.V. oder S.A. & Co. KG zu kombinieren.
Fast 200 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 Arbeitnehmern in Deutschland enthalten ihren Beschäftigten die paritätische Mitbestimmung vor, indem sie eine Rechtsform wie SE (zum Beispiel Axel Springer, Pro Sieben Sat.1 Media, Vonovia) oder Auslandsgesellschaft & Co. KG (C&A, Mayer Werft, Tönnies) sowie Stiftungen (Adolf Würth, Aldi Süd und Nord, Lidl) oder andere Vermeidungsstrategien nutzen. Davon betroffen sind rund 1,5 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland. Um diesen Missstand zu beheben, sollte der deutsche Gesetzgeber – auch ohne Europa – sofort handeln. Er könnte die deutsche Mitbestimmung auf alle in Deutschland aktiven Unternehmen in ausländischer Rechtsform „erstrecken“. Ein „Mitbestimmungserstreckungsgesetz“ würde Beschäftigten in Deutschland die gleiche Mitsprache unabhängig von der Rechtsform sichern.
„Wir brauchen stärkere gesetzliche Vorgaben für Arbeitnehmerbeteiligung in Deutschland und Europa“, sagt Norbert Kluge, Gründungsdirektor des I.M.U. Das sei in der aktuellen Wirtschaftskrise wichtiger denn je. Ein Durchstarten sei nur mit Arbeitnehmervertretern in mitbestimmten Aufsichtsräten, starken und tariffähigen Gewerkschaften und kreativen Betriebsräten möglich.
Sebastian Sick: Erosion als Herausforderung für die Unternehmensmitbestimmung, in: Mitbestimmung der Zukunft. Mitbestimmungsreport Nr. 58, April 2020
Maxi Leuchters: Warum brauchen wir europäische Mindeststandards für Information, Konsultation und Partizipation, in: Mitbestimmung der Zukunft. Mitbestimmungsreport Nr. 58, April 2020
Norbert Kluge: „Mehr Mitbestimmung für den Neustart“, Böckler Impuls 7/2020