Niedriglohn: Schlecht kombiniert
Wer ein sehr geringes Arbeitseinkommen bezieht, kann es durch Arbeitslosengeld II aufstocken. Dieser Kombilohn hat Nachteile - er bietet Anreize zum Lohndumping. Wissenschaftlerinnen des IAT raten darum zu einem flankierenden Mindestlohn.
Das Arbeitslosengeld II (ALG II) entwickelt den Charakter eines flächendeckenden Kombilohns. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge bezogen im September 2005 etwa 900.000 Personen ALG II zusätzlich zum Erwerbseinkommen; darunter waren sogar 280.000 Beschäftigte mit einem Vollzeitjob. "Dies verweist darauf, dass der Staat bereits heute in erheblichen Umfang Niedriglöhne subventionieren muss", erklären Karen Jaehrling und Claudia Weinkopf vom Institut für Arbeit und Technik (IAT).* Mit einem weiteren Anstieg der Zahl der so genannten Aufstocker ist zu rechnen. Eine Modellrechnung im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung hatte die Zahl an Erwerbstätigen, die trotz Arbeit Anspruch auf ALG II haben, aber bisher nicht geltend machen, auf fast zwei Millionen geschätzt. Angesichts der vielen Geringverdiener und der kaum zu kalkulierenden Kosten sehen Jaehrling und Weinkopf die Einführung weiterer Kombilohnmodelle skeptisch. Stattdessen empfehlen sie, das System der Grundsicherung weiter zu entwickeln - flankiert von einem Mindestlohn und einer Reform der Minijobs.
Handlungsbedarf entsteht aufgrund des drohenden Lohndumpings. Derzeit können die Arbeitgeber die Löhne senken und darauf vertrauen, dass der Steuerzahler einspringt und für ein Existenz sicherndes Einkommen sorgt. Das IAT sieht "die Gefahr, dass Unternehmen das System der Grundsicherung zunehmend nutzen, um Lohndumping zu forcieren" - zulasten der öffentlichen Kassen und der Beschäftigten. Das kann die Probleme im Niedriglohnsektor verschärfen: Seit Jahren steigt der Anteil der Menschen in Deutschland, die für wenig Geld arbeiten, "teilweise zu extrem niedrigen Löhnen, die in anderen Ländern aufgrund gesetzlicher Mindestlöhne unzulässig sind", wie Jaehrling und Weinkopf schreiben. Nach Berechnungen des IAT sind derzeit 4,9 Millionen Menschen für Stundenlöhne unter 7,50 Euro im Einsatz. 1,5 Millionen Beschäftigte arbeiten sogar für weniger als 5 Euro brutto je Stunde - obwohl das Sozialgericht Berlin einen Stundenlohn von 5,93 Euro als sittenwidrig betrachtet.
Mindestlohn als Haltelinie: In Großbritannien erklärte die Regierung, dass Kombilohn-Elemente - also der Ausbau der Grundsicherung und die Ausweitung von Steuergutschriften - nur finanzierbar seien, wenn gleichzeitig Lohndumping unterbunden werde - etwa durch einen Mindestlohn. Die IAT-Expertinnen befürworten darum auch in Deutschland eine untere Lohngrenze. Der häufig geäußerte Einwand, es gebe mit der Sozialhilfe oder dem ALG II in Deutschland schon einen faktischen Mindestlohn, sei bei 900.000 Aufstockern nicht haltbar. Auch den Vorwurf, die Bezieher von ALG II reduzierten ihren Arbeitseinsatz, um mit möglichst wenig Aufwand das Einkommen aus Transfer und Arbeit zu maximieren, beurteilen sie als wenig stichhaltig - denn diese These schreibt den Niedriglöhnern eine Marktmacht gegenüber den Arbeitgebern zu, die "in vielen Fällen nicht der Realität entsprechen dürfte", so die IAT-Forscherinnen. Die geringen Stundenzahlen resultieren eher aus dem Kalkül der Unternehmen: Sie versprechen sich von der Aufspaltung von Vollzeitstellen in Minijobs Kosten- und Flexibilitätsvorteile. Außerdem ermöglicht ihnen die Regelung der geringfügigen Beschäftigung in der aktuellen Form, höher Qualifizierte wie Studierende oder Rentner einzusetzen, ohne sie angemessen zu entlohnen.
Die Minijobs sind neben dem ALG II die zweite große existierende Kombilohnvariante in Deutschland: Etwa sieben Millionen arbeiten - zusätzlich oder ausschließlich - ohne oder zu geringen Sozialabgaben und Steuern. Unter den bereits existierenden Kombilöhnen ist dies "die einzige Subvention, die völlig ohne Zielgruppenbezug und Bedarfsprüfung gewährt wird". Eine Reform der geringfügigen Beschäftigung könnte den tatsächlichen Problemgruppen am Arbeitsmarkt helfen, erwartet das IAT. Wenn die Vergünstigungen für Minijobs reduziert werden, dürfte "das konkurrierende Angebot an Arbeitskräften" - etwa durch geringfügig Beschäftigte im Nebenerwerb - zurückgehen. Eine Weiterentwicklung der Grundsicherung in Richtung zusätzlicher Arbeitsanreize habe erst dann Sinn, wenn ALG-II-Empfänger größere Chancen haben, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen.
Karen Jaehrling, Claudia Weinkopf unter Mitarbeit von Bettina Hieming und Bruno Kaltenborn: Kombilöhne in Deutschland - neue Wege, alte Pfade, Irrweg?
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, 2006
Download (pdf)
Thorsten Kalina, Claudia Weinkopf: Ein gesetzlicher Mindestlohn auch in Deutschland?
IAT-Report, 2006