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Rechtslücken schließen Böckler Impuls

Mitbestimmung: Rechtslücken schließen

Ausgabe 10/2024

Der Europäische Gerichtshof hat eine Entscheidung gefällt, die es künftig noch leichter macht, die Mitbestimmung auszuhebeln. Nun ist es am Gesetzgeber, Schlupflöcher zu schließen.

Ändert eine deutsche Kapitalgesellschaft mit Mitbestimmung im Aufsichtsrat ihre Rechtsform und wird zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE), so bleibt die Mitbestimmung auf Unternehmensebene unverändert oder muss neu verhandelt werden. Eigentlich. Findige Beraterinnen und Berater haben jedoch Konstruktionen ersonnen, mit denen sich diese Grundregel umgehen lässt. Etwa, indem zunächst eine SE ohne Beschäftigte – und daher ohne Mitbestimmung – gegründet wird, die dann auf verschlungenen Wegen an die Spitze eines Unternehmensgeflechts gehievt wird – mit der Folge, dass die Beschäftigten keine Mitbestimmungsmöglichkeiten auf Konzernebene haben. So geschehen 2013 beim Hamburger Kamera- und Medizintechnikhersteller Olympus. Der Konzernbetriebsrat hat geklagt, um wenigstens nachträgliche Verhandlungen über eine Mitbestimmung im Aufsichtsrat zu erreichen. Darüber muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden, das wiederum den Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingeschaltet hat. In einem sogenannten „Vorabentscheidungsersuchen“ haben die obersten deutschen Arbeitsrichterinnen und -richter sich an den EuGH gewandt, da dessen Auslegung für den Fall letztlich entscheidend ist. Das Urteil des höchsten EU-Gerichts: Nachverhandlungen sind auch dann nicht vorgesehen, wenn eine arbeitnehmerlose SE, bei deren Gründung Verhandlungen unterblieben sind, als herrschendes Unternehmen eines Konzerns mit vielen Beschäftigten eingesetzt wird.

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Damit segne der EuGH „ein weiteres großes Schlupfloch zur Vermeidung der Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Aufsichtsrat ab und trägt zu deren Erosion bei“, kritisiert Sebastian Sick, Experte für Mitbestimmung und Unternehmensrecht am I.M.U. „Einen Teil des europäischen Sozialmodells gibt der EuGH preis, indem er Tür und Tor für die Umgehung der Mitbestimmung öffnet.“ Die Entscheidung unterstreiche, dass die SE ein Hauptproblem für die Zukunft der Mitbestimmung sei. Sie verhindere, dass Unternehmen in die Mitbestimmung hineinwachsen und ermögliche, sie auszuhebeln. 

Der Spruch des Luxemburger Gerichts sei nicht überzeugend, sagt Sick. „Das Gesetz fordert eine Beteiligungsverhandlung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmervertretung vor Gründung einer SE. Wenn eine solche Verhandlung nicht stattfinden kann, weil die SE arbeitnehmerlos gegründet wird, müssen solche Gründungsverhandlungen wenig­stens dann nachgeholt werden, wenn die schlummernde SE zum Leben erweckt wird und als Konzernholding eingesetzt wird, die über Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herrscht. Alles andere wäre eine Bankrotterklärung für den Schutz der Mitbestimmung in der SE. Das widerspricht dem erklärten Ziel der SE-Richtlinie, gerade die Arbeitnehmermitbestimmung zu schützen. Das Prinzip der Sicherung des Status quo der Mitbestimmung in der SE wird ad absurdum geführt, wenn ein Nachholen der Beteiligungsverhandlungen bei Aktivierung einer arbeitnehmerlosen Gesellschaft ausgeschlossen bleibt.“ 

Wenigstens einen Lichtblick gibt es Sick zufolge in der Entscheidung: Der EuGH betont ausdrücklich die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, „geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten“. Er hebt hervor, dass der nationale Gesetzgeber bei der Festlegung geeigneter Maßnahmen einen Spielraum hat. „Diesen sollte er nun voll zum Schutz der Mitbestimmung ausschöpfen.“

I.M.U.-Direktor Daniel Hay ergänzt: „Die Ampelkoalition muss nun ihre Ankündigung im Koalitionsvertrag wahr machen und die Umgehung der Mitbestimmung mittels SE eindämmen.“ Darüber hinaus bedürfe es genereller Mindeststandards der Mitbestimmung in Europa, so wie sie das Europaparlament bereits konkret eingefordert habe. „Jetzt erst recht“ sei eine europäische Rahmenrichtlinie mit solchen Standards in Europa erforderlich, damit nicht immer neue Kniffe der Beraterwelt zu immer neuen Umgehungsszenarien führen. Sonst sei zu befürchten, dass Mitbestimmung der Beschäftigten an der Konzernspitze zur Ausnahme werde.

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Was Europa für Mitbestimmung und Nachhaltigkeit tun muss, hat das I.M.U. zusammengestellt: Eine „To-do“-Liste für die nächste EU-Kommission.

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