Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: "Neue Risiken für die Mitbestimmung"
Unternehmen sollen ihren Firmensitz innerhalb der EU künftig leichter verlegen können. Dadurch könnten ihre Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit und Arbeitnehmerrechte ausgehebelt werden, warnt I.M.U.-Direktor Nobert Kluge.
Die Wirtschaft wächst, die Unternehmen verdienen Milliarden. Doch die Bürger profitieren davon kaum. Warum?
Große Unternehmen optimieren ihre Strukturen heute systematisch und weltweit: Wo findet ein Unternehmen die besten Standortbedingungen, geringsten Steuerlasten, die wenigsten Arbeitnehmerrechte vor? Vorteile öffentlicher Infrastruktur werden gerne genutzt. Daraus resultierende Gewinnsteigerungen wandern meist in die Taschen privater Investoren. Kapitalmarktgetriebene Geschäftspraktiken sind so zum Treiber für wachsende soziale Ungleichheit innerhalb Europas geworden.
Was kann dagegen getan werden?
Wenn wir diese Unternehmen zu mehr Einsatz für das Gemeinwohl zwingen wollen, brauchen wir bessere europäische Wirtschaftsgesetze. Ein zukunftstaugliches europäisches Gesellschaftsrecht muss Corporate Governance als rechtliches Werkzeug für nachhaltige Unternehmen definieren: Das Unternehmen wird gesetzlich zur Verantwortung gegenüber Beschäftigten, aber auch Verbrauchern und der regionalen Politik verpflichtet. Die Gewerkschaften setzen sich dabei für die Stärkung und Ausweitung demokratischer Mitbestimmungsrechte in europäischen Wirtschaftsgesetzen ein. Das jetzt von der EU-Kommission vorgelegte Gesetzespaket zur grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität bietet Gelegenheit, die europäische Politik in diese Richtung zu treiben.
Unternehmen können ihren Standort in der EU problemlos verlagern – und dabei angestammte Mitbestimmungsrechte abstreifen. Wird sich das durch die neuen Gesetzesvorschläge aus Brüssel ändern?
Es ist höchste Zeit, dass europäische Gesetzgebung diesem Treiben Einhalt gebietet. Nach dem Willen der Kommission sollen Unternehmen künftig Rechenschaft darüber ablegen, welche wirtschaftlichen Gründe sie zur gesellschaftsrechtlichen Veränderung motiviert haben. Zudem sollen sie die Auswirkungen auf Beschäftigung und Mitbestimmung benennen. Auch wenn das erstmals ein guter Ansatz ist, ist fraglich, ob die Vorschläge der EU-Kommission ausreichen, wenn operativ tätige Unternehmen in reine Briefkastenfirmen mit Sitz in innereuropäischen Steueroasen umgewandelt werden sollen.
Der Ausstieg aus der deutschen Mitbestimmung durch Sitzverlegung wäre also weiterhin möglich?
Die EU-Kommission will erstmals gesetzlich die Möglichkeit eröffnen, den Registersitz in einen anderen EU-Mitgliedsstaat zu verlegen als den, wo sich der reale Sitz befindet. Das schafft für die Mitbestimmung neue Risiken. Die EU-Kommission hat es versäumt, einen europäischen Mindeststandard für Mitbestimmung einzuführen, um diesem Risiko vorzubeugen. Immerhin enthält der Gesetzesvorschlag Schutzregelungen für vorhandene Mitbestimmungsrechte. Da haben die anhaltend kritischen Bemerkungen der deutschen und europäischen Gewerkschaften offenbar Wirkung gezeigt. Aber wenn die deutsche Politik will, dass die Mitbestimmungsgesetze hierzulande uneingeschränkt – in allen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland – beachtet werden, dann muss sie dafür die gesetzlichen Schlupflöcher gegen Mitbestimmungsumgehung zuhause stopfen. Das EU-Mobilitätspaket bietet dafür definitiv keine substanzielle Lösung.
Die größten Konzerne haben mehr finanzielles Gewicht als die meisten Regierungen. Umso wichtiger ist, dass nicht nur Aktionäre über die Unternehmenspolitik entscheiden, mahnt WSI-Direktorin Anke Hassel. Unter den 100 größten „wirtschaftlichen Einheiten“ der Erde sind laut der britischen NGO „Global Justice Now“ 69 Unternehmen und 31 Staaten, erklärt Hassel. Beispielsweise macht Apple mehr Umsatz, als die belgische Regierung an Geld zur Verfügung hat. „Damit haben große Unternehmen natürlich erheblichen wirtschaftlichen Einfluss, ihre Geschäftsmodelle und Strategien gestalten die Regeln der Globalisierung wesentlich mit“, so Hassel. Wenn allein Topmanager, Aktionäre und andere Finanzmarktakteure diese Strategien bestimmen, drohen nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin kurzsichtiges Kalkül und die Fixierung auf wenige Finanzkennzahlen. Dagegen setzten Beteiligungsrechte der Beschäftigten in den obersten Entscheidungsgremien von Unternehmen ein Gegengewicht. Mit der Böckler-Expertenkommission „Worker´s Voice“ leuchtet Hassel die verschiedenen europäischen Beteiligungsvarianten aus. Erstes Fazit der Wissenschaftlerin: Auch wenn die nationalen Lösungen oft sehr unterschiedlich sind, wirkten vor allem die weitergehenden Mitbestimmungsregeln als „Korrektiv im Sinne guter, nachhaltiger Unternehmensführung“.
Norbert Kluge ist Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.)der Hans-Böckler-Stiftung und Corporate-Governance-Experte