Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropäische Betriebsräte: Mitbestimmung effektiv machen
In der Praxis haben Europäische Betriebsräte oft wenig Einfluss. Eine Reform der betreffenden Richtlinie ist nötig, um das zu ändern.
Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission haben sinnvolle Reformkonzepte vorgelegt, um die bislang schwache Rechtsposition Europäischer Betriebsräte (EBR) zu stärken. Bis zu den Europawahlen konnten sie diese jedoch nicht mehr umsetzen. EBR als Institutionen grenzüberschreitender Interessenvertretung sind insbesondere dann wichtig, wenn die entscheidende Managementebene, etwa die Konzernzentrale, im europäischen Ausland sitzt. Das kommt immer häufiger vor. Warum die Reform in der neuen Legislaturperiode unbedingt zügig verwirklicht werden sollte, zeigt eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung.
Ein Recht auf grenzüberschreitende Mitsprache von Beschäftigten gibt es in der EU seit 1996: Es ermöglicht in Unternehmen ab 1000 Beschäftigten, von denen jeweils mindestens 150 in zwei Mitgliedsstaaten arbeiten, die Einrichtung von EBR, die die Interessen der Belegschaft gegenüber dem zentralen Management vertreten. Ein wertvolles Instrument in einer zunehmend vernetzten europäischen Wirtschaft, so Thilo Janssen vom WSI und Maxi Leuchters vom I.M.U.
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Doch bislang funktioniert es nur mäßig, weil die gesetzlichen Beteiligungsrechte schwach sind und von einem unkooperativen Management leicht ausgehebelt werden können: „Der EBR kann nur dann ein wichtiger Faktor im Mehrebenensystem der Mitbestimmung sein, wenn er seine Rechte auf Unterrichtung und Anhörung effektiv wahrnehmen kann – was für einen Großteil der EBR heute nicht zutrifft.“ Janssen und Leuchters haben die Reformkonzepte von EU-Parlament und Kommission in einer gemeinsamen Analyse unter die Lupe genommen. Fazit: Die vorgeschlagenen Änderungen können dazu beitragen, manche grundlegenden Mängel zu lindern, und sollten in der neuen Legislaturperiode umgesetzt werden.
Der Studie zufolge gibt es mittlerweile rund 1370 aktive EBR in der EU. Die Voraussetzungen der EBR-Richtlinie erfüllen aber etwa 3900 Unternehmen. Das heißt: In nur gut einem Drittel der Fälle ist das Recht der Beschäftigten auf eine grenzüberschreitende Interessenvertretung verwirklicht. Auch in Deutschland verfügt nur jeder dritte der 650 entsprechenden Konzerne über einen EBR. Zudem sind hier 46 Prozent „alte“ EBR-Vereinbarungen, die nicht die Mindeststandards der aktuellen Richtlinie erfüllen müssen, weil für sie ein Bestandsschutz gilt. Europaweit beträgt der Anteil mehr als ein Viertel.
Beschäftigte in Deutschland könnten von einem funktionsfähigen EBR insbesondere dann profitieren, wenn die Konzernzentrale sich im Ausland befindet, sodass die nationalen Mitbestimmungsrechte auf der zentralen Entscheidungsebene nicht greifen, schreiben Janssen und Leuchters. Strategische Entscheidungen werden nämlich dann in der Regel durch das im Ausland ansässige Management getroffen. Diese Konstellation ist zunehmend verbreitet: Dass ihr Unternehmen zu einer ausländischen Muttergesellschaft gehört, bejahten bei der WSI-Betriebsrätebefragung 2006 rund 27 Prozent der Betriebsräte von Firmen mit EBR, 2023 waren es knapp über 50 Prozent. Die Zahl ausländischer Unternehmen mit EBR und Töchtern in Deutschland hat sich zwischen 2000 und 2021 von unter 400 auf rund 800 verdoppelt.
Während der Bedarf an transnationaler Beschäftigtenvertretung zunimmt, habe sich die bisherige EBR-Richtlinie in der Umsetzung in vielerlei Hinsicht als wenig tauglich erwiesen, heißt es in der Analyse. Beispielsweise gebe es keine Verpflichtung für das Management, EBR-Stellungnahmen zu berücksichtigen – falls überhaupt eine Konsultation stattfindet. Befragungen hätten ergeben, dass fast 80 Prozent der EBR erst unterrichtet und angehört werden, nachdem strategische Entscheidungen bereits gefällt worden sind. Bei knapp 40 Prozent komme es häufig vor, dass die Geschäftsführung Informationen als vertraulich zurückhält. Zudem gebe es oft Auseinandersetzungen darum, ob es sich bei bestimmten Entscheidungen wirklich um „länderübergreifende Angelegenheiten“ handelt, der EBR also überhaupt zuständig ist.
Die Sanktionen, die in Deutschland bei Verletzung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung maximal auf eine Geldstrafe von 15 000 Euro hinauslaufen, hätten für multinationale Konzernen allenfalls „Portokassencharakter“. Zuletzt bedeute die fortdauernde Gültigkeit von Vereinbarungen, die vor Inkrafttreten der ersten EBR-Richtlinie oder in einer Übergangszeit vor der Reform 2009 geschlossen worden sind, „eine erhebliche Fragmentierung der EBR-Praxis zu Lasten von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit“.
Dass es in Sachen EBR an vielen Stellen hapert, hat die Politik durchaus erkannt: Die Ampel-Parteien hatten in ihrem Koalitionsvertrag 2021 angekündigt, dass sie „die demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene und europäische Betriebsräte fördern und wirkungsvoll weiterentwickeln“ würden – allerdings nichts in dieser Hinsicht unternommen. Das Europäische Parlament hat dagegen in der vergangenen Legislaturperiode in zwei Initiativberichten unter der jeweiligen Federführung der deutschen Abgeordneten Dennis Radtke (CDU) und Gabriele Bischoff (SPD) konkrete Änderungen der EBR-Richtlinie vorgeschlagen. Die Europäische Kommission hat darauf basierend im Januar 2024 ihre eigenen Vorschläge veröffentlicht.
Die Fachleute von WSI und I.M.U. kommen zu dem Schluss, dass diese Vorschläge „tatsächlich geeignet sein können, die Wirkmächtigkeit von EBR in multinationalen Konzernen erheblich zu verbessern“. Zu begrüßen seien unter anderem die geplanten „klaren Regeln“ für den Unterrichtungs- und Anhörungsprozess, die ein Recht auf Konsultation und eine begründete Antwort zeitlich vor einer endgültigen Entscheidung festschreiben. Damit Informationen nicht missbräuchlich als vertraulich eingestuft werden, sollen Unternehmen verpflichtet werden, diese Einstufung dem EBR gegenüber sachlich in einem eigenen Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren zu begründen. Für „länderübergreifende Angelegenheiten“ schlägt die Kommission eine präzisere Definition vor, die auch „potenzielle Auswirkungen“ von Entscheidungen berücksichtigt, die Beschäftigte in mindestens zwei Ländern „nach vernünftigem Ermessen“ mittelbar betreffen. Bei finanziellen Sanktionen sollen die Mitgliedsstaaten künftig den Umsatz der betroffenen Unternehmen berücksichtigen. Die Ausnahmen für EBR-Vereinbarungen, die bislang nicht die Mindeststandards erfüllen, sollen nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren auslaufen.
Die Vorschläge des EU-Parlaments gehen zum Teil noch weiter: Sie sehen beispielsweise einen EU-weit einheitlichen Sanktionsrahmen vor, der sich an der Datenschutz-Grundverordnung orientiert und Geldbußen von bis zu 20 Millionen Euro oder vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes beinhaltet. Durch Einheitlichkeit könne verhindert werden, dass die Sanktionspraxis zwischen den Mitgliedsstaaten auseinanderdriftet und „im schlechtesten Fall einem Anreiz zu Regime-Shopping Vorschub“ geleistet wird, erklären Janssen und Leuchters. Ebenfalls zu begrüßen wären aus ihrer Sicht die vom Parlament vorgeschlagene Möglichkeit für EBR, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, wenn sie nicht richtlinienkonform angehört werden, sowie die Pflicht zur Berücksichtigung von EBR-Stellungnahmen durch das Management.
Unter dem Strich bleibe festzuhalten, dass EBR insbesondere in der wachsenden Zahl von Betrieben mit ausländischer Muttergesellschaft einen erheblichen Mehrwert für die Mitbestimmung bringen können, so das Fazit der Studie. Allerdings gelinge das nicht, wenn die Standards der EBR-Richtlinie kaum durchsetzbar sind und Verstöße kaum Konsequenzen haben. „Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Änderungen an der Richtlinie eröffnen aber die Chance, dies nachhaltig zu ändern – dem zahnlosen Tiger EBR ein Gebiss zu verpassen und das Potenzial nutzbar zu machen, das EBR auch im Sinne der nachhaltigen Ausrichtung von Unternehmen haben.“ Zusätzlich brauche es analoge Änderungen an den Vorgaben für SE-Betriebsräte – damit für Unternehmen nicht ein weiterer Anreiz entsteht, in die Rechtsform Europäische Aktiengesellschaft (SE) zu wechseln, um Beteiligungsrechte auszuhebeln.
„Wir brauchen Interessensvertretungen von Beschäftigten auf europäischer Ebene in Ergänzung zu den nationalen Mitbestimmungsrechten auf Aufsichts- und Betriebsratsebene“, betont I.M.U.-Direktor Daniel Hay. „Unternehmen agieren schon lange nicht mehr nur national, daher ist es nur folgerichtig, supranationale Beteiligungsformen zu stärken.“ Der EBR sei gerade auch in Transformationsprozessen ein wichtiges Netzwerk und Impulsgeber, dessen Rechte gestärkt werden müssen.
Thilo Janssen, Maxi Leuchters: Zähne für den Tiger? Die Revision der Europäischen Betriebsräterichtlinie und ihre Bedeutung für Deutschland, WSI Policy Brief Nr. 86, Dezember 2024