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Mehr Streiks Böckler Impuls

Arbeitskämpfe: Mehr Streiks

Ausgabe 12/2024

Im vergangenen Jahr wurde hierzulande vergleichsweise viel gestreikt. International liegt Deutschland in Sachen Arbeitskampf im unteren Mittelfeld.

Bei den Arbeitskämpfen und den durch Streiks ausgefallenen Arbeitstagen war 2023 gegenüber 2022 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Sowohl die Zahl der teilnehmenden Beschäftigten als auch die Summe der ausgefallenen Arbeitstage lagen allerdings unter dem Höchststand von 2015. Das zeigt die WSI-Arbeitskampfbilanz 2023. Auch 2024 dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit „eher ein arbeitskampfintensives Jahr werden“, schreiben die WSI-Fachleute Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten, Marlena-Sophie Luth und Thilo Janssen. Ob dabei die Werte des abgelaufenen Jahres übertroffen werden, sei aber noch offen. Viel werde vom Verlauf der Tarifrunde in der Metall- und Elektro­industrie im Herbst abhängen. Im internationalen Vergleich bewege sich Deutschland immer noch im unteren Mittelfeld. 

Durch die außergewöhnlich hohe Inflation und dadurch verursachte Reallohnverluste war „eine Konstellation vorgegeben, die für die Tarifverhandlungen im Jahr 2023 auf eine besonders hohe Konfliktintensität hindeutete“, heißt es in der Analyse. Im Kern sei es um die Frage gegangen, „wie die Kosten der Inflation zwischen Kapital und Arbeit verteilt werden sollen“ – und das in einer Situation, in der die demografische Entwicklung in vielen Bereichen die Position der Beschäftigten stärke. Für 2023 wurden insgesamt 312 Arbeitskämpfe ermittelt und damit 87 mehr als 2022. Rechnerisch fielen dadurch 1,53 Millionen Arbeitstage aus – mehr als doppelt so viele wie 2022. Etwas anders sah hingegen die Entwicklung bei der Streikbeteiligung aus: Die Zahl der Teilnehmenden ist 2023 gegenüber dem Vorjahr von 930 000 auf 857 000 gesunken. 

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Zum Vergleich: 2015 war das arbeitskampfintensivste Jahr seit Beginn der WSI-Arbeitskampfstatistik im Jahr 2006. Damals streikten laut WSI mehr als 1,13 Millionen Menschen, es fielen gut zwei Millionen Arbeitstage in 135 Arbeitskämpfen aus. Noch höher dürften die Zahlen Mitte der 1970er- und 1980er-Jahre gewesen sein. Dass Deutschland 2023 und auch im ersten Halbjahr 2024 von Teilen der Öffentlichkeit gleichwohl als „Streikrepublik“ wahrgenommen wurde, liege vor allem daran, dass die Auswirkungen mehrerer Arbeitskämpfe unmittelbar im Alltag vieler Menschen zu spüren waren – zum Beispiel die Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr, an den Flughäfen und bei Post und Bahn, so die Forschenden. Wie konfliktreich eine Tarifauseinandersetzung ablaufe, hänge allerdings keineswegs allein von den Gewerkschaften ab, sondern mindestens ebenso von der Arbeitgeberseite. Deren Haltung habe 2023 und in der ersten Jahreshälfte 2024 stellenweise erheblich zur Eskalation beigetragen. 

Auf einzelne Betriebe und Firmen beschränkte Auseinandersetzungen machten laut WSI auch 2023 wieder die große Mehrheit der Arbeitskämpfe aus. Oft sei das Ziel gewesen, Unternehmen zum Anschluss an bestehende Branchentarifverträge zu bewegen, nicht selten ging es aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu erreichen. Als prominentes Beispiel hierfür nennt der WSI-Report den dänischen Windanlagenhersteller Vestas, bei dem erst nach 123 Streiktagen erstmals ein Tarifabschluss gelang. Noch länger, nämlich 180 Tage, dauerte der Arbeitskampf bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW metalfloat in Sachsen, die zu einem chinesischen Konzern gehört. SRW reagierte mit Aussperrungen – eine seit Jahrzehnten in Deutschland kaum noch praktizierte Eskalation. Der Arbeitskampf endete im Mai 2024 ohne Tarifabschluss.

„Die Tarifpolitik stand und steht seit gut zwei Jahren vor besonderen Herausforderungen. Es sollte nicht überraschen, dass in einer Situation mit der höchsten Inflation seit Jahrzehnten Beschäftigte den Anspruch haben, ihre Reallohnverluste zu begrenzen und dann ihre Kaufkraft wieder zu stärken“, sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs Thorsten Schulten. Nach und nach gelinge es, entsprechende Lohnerhöhungen auch mit Streiks durchzusetzen. Das bringe auch positive gesamtwirtschaftliche Impulse, wie der langsam wieder anziehende Konsum der privaten Haushalte zeige.

WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch wertet die hohe Streikbeteiligung „als ein positives Zeichen, dass sich wieder mehr Beschäftigte in den Gewerkschaften engagieren. Wie verschiedene Studien aus dem WSI gezeigt haben, fördert ein solches Engagement das Zutrauen, die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen positiv beeinflussen zu können, und stärkt damit nicht zuletzt auch die Demokratie in Deutschland.“ Forderungen, das Streikrecht einzuschränken, seien demgegenüber verfassungsrechtlich hoch pro­blematisch und gingen in die falsche Richtung.     

Im internationalen Vergleich ist das Streikrecht in Deutschland ohnehin relativ restriktiv, macht die WSI-Analyse deutlich. Politische Streiks sind in vielen europäischen Ländern möglich, hierzulande dagegen weitestgehend ausgeschlossen. Aktuelle Forderungen, das Streikrecht in der „kritischen Infrastruktur“ einzuschränken, könnten leicht 40 bis 50 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland betreffen, denn „je nach konkreter Definition und genauer Abgrenzung“ könne der Sektor entsprechend groß gefasst werden, schreiben Dribbusch, Schulten, Luth und Janssen. Schon die quantitative Dimension mache deutlich, dass es hierbei um einen massiven Eingriff ins Streikrecht geht, der darauf abziele, die Verhandlungsposition der Beschäftigten erheblich zu schwächen. Notdienstregelungen seien in existenziellen Bereichen der Infrastruktur, etwa bei Krankenhäusern, ohnehin längst Standard.

In der internationalen Streikstatistik liegt Deutschland weiterhin im unteren Mittelfeld, so die Schätzung des WSI. Hierzulande fielen zwischen 2013 und 2022, dem jüngsten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen im Jahresdurchschnitt rechnerisch pro 1000 Beschäftigte rund 18 Arbeitstage aus. Den höchsten Wert weist Belgien mit im Schnitt 103 Ausfalltagen auf, es folgen Frankreich mit 92 Tagen allein im Privat­sektor, Finnland mit 90 Tagen und Kanada mit 83 Tagen. In Dänemark, Spanien und Norwegen fielen im Vergleichszeitraum pro 1000 Beschäftigte durchschnittlich zwischen 53 und 34 Arbeitstage pro Jahr aus. Das untere Mittelfeld wird aktuell von Großbritannien mit 23 Tagen angeführt und umfasst neben Deutschland auch die Niederlande, Polen und Irland. Auf 10 Ausfalltage pro Jahr kommen die USA und Portugal. In der Schweiz, Österreich, Schweden und der Slowakei sind es zwei bis null.

Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth, Thilo Janssen: WSI-Arbeitskampfbilanz 2023. 2023 – ein langes und turbulentes Arbeitskampfjahr, WSI-Report Nr. 95, Düsseldorf, Juni 2024

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