Quelle: HBS
Böckler ImpulsMitbestimmung: Im Osten wächst Neues
In der ostdeutschen Industrie bekommt die Mitbestimmung neuen Schwung – durch Generationswechsel und Neugründungen von Betriebsräten.
Rund jeder zehnte Betrieb mit wenigstens fünf Beschäftigten in Ostdeutschland hat einen Betriebsrat, gut ein Drittel der Beschäftigten profitiert von einer gesetzlichen Vertretung. Daran hat sich in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert. Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass die Mitbestimmung in der jüngsten Vergangenheit wieder neuen Schwung bekommen hat, wie eine Untersuchung von Silke Röbenack und Ingrid Artus zeigt. Mit Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung sind die Soziologinnen von der Universität Erlangen-Nürnberg Hinweisen auf gehäufte Betriebsratsgründungen und verstärkte Aktivitäten bestehender Vertretungsgremien im Osten nachgegangen. Ihre Umfragen unter regionalen Verwaltungsstellen der Industriegewerkschaften Metall und Bergbau, Chemie, Energie bestätigen die Vermutung: Die Gründungsaktivitäten haben seit etwa 2010 zugenommen. Dies gilt vor allem für die industriellen Zentren wie Jena oder Leipzig. Ebenfalls in diesen Regionen zeigen viele bestehende Betriebsräte verstärktes Engagement.
In Interviews mit Arbeitnehmervertretern stießen die Wissenschaftlerinnen auf die Ursachen für die Aufbruchstendenzen: selbstbewusstere Belegschaften in einem inzwischen recht robusten wirtschaftlichen Umfeld. Entscheidend ist auch der Generationswechsel in den Betrieben. Die noch in der DDR sozialisierten Jahrgänge, die seit der Wende in der steten Angst vor Arbeitslosigkeit lebten und dem Arbeitgeber gegenüber entsprechend konzessionsbereit waren, werden zunehmend abgelöst. Gut ausgebildete Jüngere, die angesichts der günstigen wirtschaftlichen Lage weniger Angst vor dem sozialen Abstieg haben, rücken nach und fordern ihre Rechte ein. Sie lösen ältere Betriebsräte ab oder gründen neue Gremien.
Jüngere Beschäftigte und Arbeitnehmervertreter hätten im Gegensatz zu vielen älteren Kollegen nicht die Einstellung verinnerlicht, man müsse Kompromisse machen, um von einer in Abwicklung befindlichen Industrie zu retten, was zu retten ist. Sie würden viel eher Frage stellen wie: Wenn wir an unserem Standort das modernste und effizienteste Werk im Konzern haben, warum haben wir dann die längsten Arbeitszeiten und die niedrigsten Löhne?
Zu neuen Betriebsratsgründungen kommt es typischerweise vor allem in zwei Situationen: Nämlich erstens, wenn der soziale Friede im Betrieb durch massive Veränderungen wie Verkauf, Fusion, Übernahme, Outsourcing oder Entlassungen gestört wird. Und zweitens, wenn sich die Unzufriedenheit über lange Zeit aufgestaut hat, etwa infolge von Lohnverzicht, unzureichend vergüteten Sonderschichten oder übermäßigen Arbeitszeiten. In solchen Fällen bringen auch „verhältnismäßig kleine Anlässe das Fass zum Überlaufen“, haben Röbenack und Artus beobachtet.
Nicht zuletzt machten sich auch die mitbestimmungsfreundlichere Haltung der Politik in den ostdeutschen Bundesländern sowie das verstärkte Engagement der Gewerkschaften bemerkbar, sagen die Forscherinnen.
Silke Röbenack, Ingrid Artus: Betriebsräte im Aufbruch, OBS-Arbeitsheft 82 (pdf), August 2015