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Gesetzgeber muss handeln Böckler Impuls

: Gesetzgeber muss handeln

Ausgabe 09/2020

Mitbestimmung ist anerkannt und geschätzt. Dennoch entziehen sich immer mehr Unternehmen der Mitsprache der Beschäftigten im Aufsichtsrat. Es gilt, Rechtslücken zu schließen.

Die Fälle häufen sich, in denen Unternehmen die Mitbestimmungsgesetze einfach ignorieren oder juristische Tricks nutzen, um Beschäftigte von den Aufsichtsgremien fernzuhalten, wie eine Studie des I.M.U.-Experten Sebastian Sick zeigt. Seiner Analyse zufolge entziehen sich über 300 Unternehmen der paritätischen Mitbestimmung und bringen so mindestens zwei Millionen Beschäftigte um ihre Mitspracherechte. Es finde „eine schleichende Erosion der Mitbestimmung statt“. Bei jedem dritten Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland – dies ist der Schwellenwert, ab dem der Aufsichtsrat zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen ist – fehlt inzwischen der mitbestimmte Aufsichtsrat. Hatten 2002 noch 767 Unternehmen paritätische Mitbestimmung, so waren es 2018 nur noch 638.

Der Jurist hat 113 Fälle ausgemacht, in denen Unternehmen die geltenden Regeln zur paritätischen Mitbestimmung schlicht nicht anwenden. Allerdings sei es für die Arbeitnehmer häufig nicht damit getan, die Anwendung der Mitbestimmung einzufordern, denn dann „können Unternehmen sich dieser leicht durch Vermeidungsmodelle entziehen“. In 194 Fällen vermeiden Unternehmen die paritätische Mitbestimmung ganz legal durch „findige Rechtskonstruktion“ – oft unter Beteiligung ausländischer Rechtsformen oder Stiftungen. Wachsende Unternehmen können paritätische Mitbestimmung verhindern, indem sie vor Erreichen des Schwellenwerts in die Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) wechseln. Das ist ein Beispiel für den mangelhaften Schutz der Mitbestimmung durch europäisches Recht. Hinzu kommt, dass die neu geregelte Verlegung des Firmensitzes ins EU-Ausland unter Umständen auch die Beschäftigten in Deutschland um ihre Mitspracherechte bringen kann. Neben der kompletten Mitbestimmungsvermeidung ist nach Sick aber auch die „Mitbestimmungsreduzierung“ ein Problem. Dabei bleibt die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats zwar erhalten, der Aufsichtsrat verliert aber an Einfluss. 

Um die Mitbestimmung zu stärken, bedarf es dem Experten zufolge unter anderem eines „Mitbestimmungserstreckungsgesetzes“, das die geltenden Regeln auch für Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen vorschreibt. Das „Einfrieren“ eines Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung per SE muss verhindert werden. Alle Rechtsformen sollten im Mitbestimmungsgesetz „lückenlos erfasst“ werden. Wenn die Mitbestimmung rechtswidrig nicht angewandt werde, müsse ein „wirksames Sanktionsregime“ greifen. Schließlich, so Sick, bedürfe es auf europäischer Ebene einer „Rahmenrichtlinie mit generellen Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation“.

Sebastian Sick: Erosion als Herausforderung für die Unternehmensmitbestimmung, in: Mitbestimmung der Zukunft, Mitbestimmungsreport Nr. 58, April 2020 

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