Quelle: HBS
Böckler ImpulsBildung: Gemeinsam klüger
Wenn Schüler länger zusammen lernen, profitieren Kinder aus sozial schwächeren Familien – ohne dass den anderen Nachteile entstehen.
Dank Föderalismus und reformfreudiger Politiker zeichnet sich das deutsche Schulsystem durch üppige Vielfalt aus: Je nach Wohnort dauert es bis zum Abitur zwölf oder 13 Jahre, gibt es Haupt- und Realschulen oder Gemeinschaftsschulen, endet die Grundschule nach der vierten oder der sechsten Klasse, sind Empfehlungen für die weiterführende Schule verbindlich oder unverbindlich. Was insbesondere für Schüler und Eltern, die das Bundesland wechseln, oft lästig ist, hat aus wissenschaftlicher Sicht auch Vorteile. Denn Unterschiede und Änderungen bei den Schulstrukturen erleichtern es, deren Auswirkungen empirisch zu untersuchen. Theresa Büchler von der Universität Bremen hat sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit institutionelle Strukturen des Bildungssystems die soziale Ungleichheit beeinflussen. Das Ergebnis: Wenn Kinder frühzeitig auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden, wirkt sich das kontraproduktiv aus. Das Gleiche gilt für verbindliche Lehrerempfehlungen.
Frühe Selektion schadet
Die Soziologin hat für ihre Analyse SOEP-Daten aus den Jahren 1985 bis 2010 ausgewertet und zu den einschlägigen Bestimmungen der Landesschulgesetze in Beziehung gesetzt. Als Maß für den Bildungserfolg hat sie die besuchte Schulform im Alter von 15 Jahren verwendet. Die soziale Herkunft der Schüler wurde über die berufliche Position der Eltern erfasst. Darüber hinaus sind in die Berechnungen das Einkommen der Eltern, das Geschlecht, die Geschwisterfolge, ein etwaiger Migrationshintergrund und der Zeitpunkt des Übergangs in die Sekundarstufe eingeflossen.
Büchlers Ergebnissen zufolge wirkt sich längeres gemeinsames Lernen insgesamt positiv aus. Die Chance, mit 15 ein Gymnasium zu besuchen, steigt signifikant, wenn die Grundschule sechs statt vier Jahre dauert oder wenn die Schüler nach der vierten Klasse gemeinsam eine Orientierungsstufe besuchen. Der Effekt wird mit zunehmendem sozialen Status geringer: Die unteren und mittleren Statusgruppen profitieren deutlich, bei der Oberschicht ist kein Unterschied feststellbar. „Besonders Kindern aus bildungsfernen Familien kommt eine mehr als vierjährige gemeinsame Beschulung zugute, wohingegen Kinder aus privilegierten Elternhäusern darunter nicht zu leiden scheinen“, urteilt die Forscherin. Die spätere Aufteilung erleichtere offenbar den Ausgleich unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, sodass der Bildungserfolg weniger vom familiären Hintergrund abhängt.
Ebenfalls statistisch relevant ist die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung: Der Besuch des Gymnasiums wird mit zunehmender elterlicher Entscheidungsfreiheit wahrscheinlicher. Auch hier variiert der Effekt mit der sozialen Herkunft. Während der Empfehlungsstatus für die oberen Schichten keine Rolle spielt, sinken die Chancen von Kindern aus bildungsfernen Familien signifikant, wenn das Lehrerurteil verbindlich ist. „Ungleichheiten beim Zugang zu höheren Schulformen werden durch die Freigabe des Elternwillens abgebaut oder zumindest nicht verstärkt“, so die Autorin.
Ambitionierte Arbeiterfamilien
Die soziologische Literatur gehe üblicherweise vom Gegenteil aus: Die Oberschicht, so die gängige Vermutung, sei zum Zwecke des Statuserhalts eher gewillt, Sprösslinge auch bei anderslautenden Empfehlungen aufs Gymnasium zu schicken, wenn das möglich ist. Angehörige der unteren Schichten bräuchten dagegen kein Abitur, um sozialen Abstieg zu vermeiden. Unverbindliche Empfehlungen müssten demnach eigentlich die soziale Unwucht verstärken. Dass dem nicht so ist, könnte laut Büchlers Analyse darauf hindeuten, dass die Ambitionen bildungsbenachteiligter Familien unterschätzt werden. Das erscheine auch insofern plausibel, als im Zuge der Bildungsexpansion immer mehr Abiturienten Ausbildungsberufe wählen. Daher sei der Statuserhalt mit Hauptschulabschluss nicht mehr gewährleistet. Umgekehrt ließen sich die privilegierten Kreise auch durch verbindliche Gutachten nicht davon abhalten, ihre Interessen durchzusetzen, indem sie bei Bedarf auf Lehrer einwirken und massiv in Nachhilfe investieren.
Theresa Büchler: Schulstruktur und Bildungsungleichheit: Die Bedeutung von bundeslandspezifischen Unterschieden beim Übergang in die Sekundarstufe I für den Bildungserfolg, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/2016 (kostenpflichtig)