Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Frühwarnsystem gegen Ungleichgewichte
Um Krisen wie die Griechenlands zu vermeiden, will die EU nun stärker darauf achten, dass sich ihre Mitgliedsländer wirtschaftlich nicht zu weit auseinander entwickeln.
Bei den Mitgliedstaaten der EU setzt sich die Erkenntnis durch, dass es für einen stabilen Euro mehr braucht als die Kontrolle der Staatsfinanzen. EU-Währungskommissar Olli Rehn hat kürzlich als Element des neuen Koordinierungsrahmens der EU einen ersten „Frühwarnbericht“ zur makroökonomischen Situation der Mitglieder vorgelegt. Hat die Gemeinschaft damit die richtigen Instrumente gegen künftige Krisen? Willi Koll, langjähriges Mitglied im Wirtschaftspolitischen Ausschuss und Makroökonomischen Dialog der EU, hat das bisherige Regelwerk der Staatengemeinschaft wie auch aktuelle Neuerungen eingehend untersucht.
Die derzeitige Vertrauenskrise wurde „mit dadurch verursacht, dass im ersten Jahrzehnt der Eurozone die Wirtschaftspolitik mehrfach fehlgeleitet war“, so der frühere Ministerialdirigent im Wirtschafts- und Finanzministerium:
- Die Politik konzentrierte sich einseitig auf Strukturreformen und die Überwachung von Staatsdefiziten und -verschuldung. Doch die selbst gesetzten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sanktionierte sie nicht.
- Das Auseinanderdriften der nationalen Inflationsraten, Lohnstückkosten und Zahlungsbilanzen hingegen hatte sie von vornherein nicht im Blick. Dabei sind dies gerade für den Bestand einer Währungsunion die makroökonomisch entscheidenden Größen, so der Wirtschaftsexperte. Denn der Wechselkurs als Ausgleichsinstrument fällt weg.
- Insbesondere die Fiskalpolitik blieb national ausgerichtet und wirkte zumeist prozyklisch. Damit verfestigte sie die immer größer werdenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des Euroraums, schreibt Koll.
Die Folge: Seit Einführung der gemeinsamen Währung bewegten sich die nominalen Lohnstückkosten und Inflationsraten zwischen den Mitgliedstaaten deutlich auseinander. Entscheidend dabei war, dass „es nicht zu einem von vielen vorher behaupteten friktionsfreien marktmäßigen Ausgleich kam“, erläutert der Experte. Sprich: In einem Land wie Spanien war die Inflation dauerhaft zu hoch, die Realzinsen waren dementsprechend zu niedrig. Das beflügelte zwar das Binnenwachstum, besonders im Bausektor – doch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit verschlechterte sich zusehends. In Deutschland war genau das Gegenteil der Fall.
Die Staatengemeinschaft sei den wachsenden Ungleichgewichten nicht rechtzeitig entgegengetreten, obwohl sie sich in einer wesentlichen Leitlinie längst darauf verpflichtet hatte, merkt Koll an. Darin habe die EU ihre Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, für Rahmenbedingungen bei der Lohnbildung einzutreten, unter denen Nominallöhne und Arbeitskosten im Einklang mit Preisstabilität und mittelfristiger Produktivität verlaufen. Dennoch sei diese für das Funktionieren der Währungsunion zentrale Norm Jahr für Jahr verletzt worden.
Zusätzlich brachen nach dem Beginn der Finanzkrise im Herbst 2007 in allen Euroländern Wachstum und Staatseinnahmen ein. Rettungsschirme für Banken, Wirtschaft und Arbeitsplätze hinterließen tiefe Spuren in den öffentlichen Finanzen. Besonders von der Krise betroffene Staaten gerieten in den Fokus von Analysten, Investoren und Rating-Agenturen – und bekamen zunehmend Probleme, ihre Staatsschulden am Kapitalmarkt zu refinanzieren.
Als Antwort auf die Vertrauenskrise haben sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone auf eine breitere Koordinierung ihrer Wirtschaftspolitik verständigt. Allerdings bestehe dabei nach wie vor die Gefahr einer erneuten Fokussierung auf staatliche Fiskalsalden und vergebliche Versuche, sich aus der Krise „herauszusparen“, warnt der Wirtschaftsexperte.
Großes Gewicht misst Koll dem Verfahren zur „Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ bei. Zu den Kriterien dieses Frühwarnsystems gehören: Leistungsbilanz, Arbeitslosigkeit, reale effektive Wechselkurse, private Verschuldung, öffentlicher Verschuldungsgrad, Nettoauslandsvermögen, Exportanteile, Lohnstückkosten, Immobilienpreise und Kreditvergabe an den privaten nicht-finanziellen Sektor. Mit den Lohnstückkosten enthält das Frühwarnsystem allerdings eine Größe, die die Tarifautonomie berührt. Die Sozialpartner seien daher an der Umsetzung der Verordnung zu beteiligen, so der Experte.
Das IMK hält die Ausgestaltung des Frühwarnsystems für ein zentrales Problem. So werden Defizite und Überschüsse in den Leistungsbilanzen ungleich behandelt: Defizite beanstandet die EU-Kommission ab vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Überschüsse erst ab sechs Prozent. Auch drohen Überschussländern keine Sanktionen. „Dabei sind dauerhaft hohe Überschüsse in der Leistungsbilanz genauso problematisch wie hohe Defizite“, erläutert IMK-Forscher Till van Treeck. „Denn hohe Überschüsse bedeuten, dass Wachstum und Beschäftigung von der Verschuldungsbereitschaft und -fähigkeit in anderen Ländern abhängig sind.“
Willi Koll: Governance in der Krise – Neue Elemente der Koordinierung in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
IMK Policy Brief, November 2011. Download (pdf)