Quelle: HBS
Böckler ImpulsDigitalisierung: Fortschritt braucht Mitsprache
Neue digitale Technologien machen den Arbeitsalltag zunächst oft schwerer statt leichter. Besser läuft es, wenn Beschäftigte von Anfang an mitreden können.
Die Tücken einer neuen Technik offenbaren sich meist erst in der Praxis. Auch bei digitalen Innovationen gibt es eine Kluft zwischen den Erwartungen und den Erfahrungen von Beschäftigten. Darunter leiden die Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden. Das geht aus einer Studie hervor, die ein Team des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) Göttingen um dessen Direktor Martin Kuhlmann veröffentlicht hat. Als Hauptgrund für das Problem machen die Forschenden fehlende Mitgestaltungsmöglichkeiten derjenigen aus, die mit der neuen Technik arbeiten müssen.
Die Ergebnisse beruhen auf Fallstudien, für die in elf Betrieben verschiedener Branchen in den Bereichen Logistik, Produktion, Sachbearbeitung und Interaktionsarbeit Interviews mit Beschäftigten sowie Expertinnen und Experten geführt wurden. Zusätzlich wurden Einschätzungen und Erfahrungen der Belegschaften per Fragebogen erfasst.
Die Auswertung zeigt, dass Digitalisierungsprojekte in den untersuchten Betrieben vor allem auf Effizienz- und Kostensenkungsziele des Managements zurückzuführen sind. Die Entscheidungsfindung erfolge in der Regel „von oben“. Dennoch blicken die Beschäftigten überwiegend optimistisch auf kommende digitale Neuerungen: 38 Prozent erwarten weniger und nur 13 Prozent mehr körperliche Belastung infolge des technologischen Wandels, 45 Prozent mehr und 13 Prozent weniger Effizienz und Qualität der Arbeitsergebnisse. Eher skeptisch sind die Befragten dagegen hinsichtlich ihrer Arbeitsautonomie: 36 Prozent rechnen mit negativen, 10 Prozent mit positiven Auswirkungen. Gleichzeitig erwarten 39 Prozent eine Zunahme des Zeitdrucks, 22 Prozent eine Abnahme.
Der grundsätzlichen Aufgeschlossenheit stehe eine deutliche Kritik an der real erlebten Digitalisierung gegenüber, heißt es in der Studie. Statt der erhofften Entlastungen und Arbeitsverbesserung erlebten Beschäftigte vielfach eher zusätzliche Arbeitsbelastungen. Die Leistungsfähigkeit der neuen Technologie werde oft überschätzt und sie entpuppe sich nicht selten als störanfällig, verursache Arbeitsunterbrechungen und erzwinge Anpassungen. Arbeitsanforderungen und Abläufe würden häufig durch stark standardisierte und rigide Software schlecht abgebildet, sodass Zusatzaufwand entsteht. Arbeitsroutinen müssten angepasst oder die technischen Vorgaben umgangen werden, Spielräume für informelle Arbeitspraktiken, die essenziell für einen reibungslosen Ablauf sind, würden geringer. Zudem machten Updates immer wieder zeitraubende Umgewöhnungen nötig. In Summe erlebten die Beschäftigten Digitalisierung oft als eine „höchst ärgerliche Irrationalisierung“. Da sie in die Ausgestaltung oft zu wenig einbezogen sind, entstehe zudem der Eindruck, dass eigene Kompetenzen und Fähigkeiten nicht anerkannt und wertgeschätzt werden.
Wie stark die Kritik ausfällt, variiere von Betrieb zu Betrieb und hänge vor allem von den Möglichkeiten der Mitgestaltung ab, erklären die Forschenden. Wo die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen an der Planung, Einführung und Anpassung von Digitalisierungsprojekten beteiligt sind, sieht es grundsätzlich besser aus: Bei einem hohen Mitgestaltungsniveau bewerten 41 Prozent die Belastungssituation als gut und 2 Prozent als schlecht, bei einem geringen Niveau äußern sich nur 18 Prozent positiv und 38 Prozent negativ. Die Möglichkeit, gesund zu bleiben, halten in den Betrieben mit hohem Mitgestaltungsniveau 57 Prozent für gut und 9 Prozent für schlecht; wo ein niedriges Niveau besteht, sind es 16 zu 35 Prozent.
Insgesamt sieht das SOFI-Team große Defizite bei der Mitgestaltung in Sachen Digitalisierung. Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen seien nur in wenigen der untersuchten Fälle in die Planung und Umsetzung von Projekten einbezogen worden. Stattdessen dominierten hierarchische und prozessferne Vorgehensweisen, bei denen wenig Rücksicht auf die konkreten Arbeitsanforderungen genommen werde. Damit digitale Technik die Arbeit erleichtert und weniger Belastungen erzeugt, müssten aber von Anfang an Beschäftigte, direkte Vorgesetzte und betriebliche Interessenvertretungen ihr Erfahrungs- und Fachwissen einbringen. Betriebsräte müssten „Technikgestaltung konsequent als Arbeitsgestaltung denken” und sich für frühzeitige, kontinuierliche und effektive Mitsprache einsetzen. Dass dem oft knappe personelle Ressourcen und mangelndes Wissen sowie fehlende Mitbestimmungsrechte entgegenstehen, sei daher ein großes Problem.
Kristin Carls, Hinrich Gehrken, Martin Kuhlmann, Barbara Splett, Lukas Thamm: Digitalisierung aus Beschäftigtensicht – Fehlende Mitgestaltung, belastender Zusatzaufwand, mangelnde Wertschätzung, WSI-Mitteilungen 2/2023