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Noch viel zu tun gegen Ausbeutung Böckler Impuls

Fleischindustrie: Noch viel zu tun gegen Ausbeutung

Ausgabe 01/2022

Ein neues Gesetz soll Missstände in der Fleischindustrie beheben. Nach einem Jahr zeigen sich erste Erfolge. Was noch fehlt, sind umfassende Tarifverträge und starke Betriebsräte.

Das Arbeitsschutzkontrollgesetz soll die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie entscheidend verbessern. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes fällt die Bilanz gemischt aus: Die Fleischkonzerne haben ehemalige Werkvertragsnehmer und -nehmerinnen fest anstellen müssen. Deren Arbeitsbedingungen haben sich allerdings nur zum Teil verbessert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs, und Johannes Specht, Leiter der Tarifabteilung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). „Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz wurde eine Zäsur in der Fleischindustrie eingeleitet, die an die Grundfesten ihres bisherigen Geschäftsmodells rührt“, so die Autoren. Es verändere die Spielregeln der Branche und eröffne den Beschäftigten die Chance, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Für dauerhafte Veränderungen brauche es aber starke Betriebsräte und Tarifverträge.

Die Fleischbranche habe, so die Experten, über viele Jahre auf „billige Massenproduktion“ gesetzt, ermöglicht durch „menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung Zehntausender osteuropäischer Arbeitsmigranten und -migrantinnen“. Obwohl die Missstände bekannt und immer wieder angeprangert worden waren, blieben alle Ansätze für Verbesserungen wirkungslos. Erst mit den Corona-Ausbrüchen in einigen großen deutschen Fleischbetrieben im Frühjahr 2020 gerieten die Arbeitgeber so stark in den Fokus der Öffentlichkeit, dass sie grundlegende Reformen nicht mehr verhindern konnten. 

Das im Dezember 2020 mit großer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat verabschiedete Arbeitsschutzkontrollgesetz soll einen Wandel in der Branche bewirken, hin zu einem sozialeren Geschäftsmodell. Wichtigste Neuerungen sind das Verbot von Werkverträgen und die weitgehende Einschränkung von Leiharbeit in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung. Außerdem verlangt das Gesetz, dass eine elektronische Arbeitszeiterfassung eingeführt, Umkleide- und Waschzeiten als Teil der Arbeitszeit angerechnet und mehr Kontrollen in der Fleischindustrie durchgeführt werden. Hinzu kommen neue Mindestanforderungen für die von Unternehmen betriebenen Gemeinschaftsunterkünfte.

Was hat sich nach einem Jahr mit dem neuen Gesetz getan? Vor allem die großen Fleischkonzerne haben oft die kompletten Werkvertragsunternehmen mit der gesamten Belegschaft übernommen. Allein bei Tönnies, dem größten deutschen Fleischkonzern, sind inzwischen mehr als 8000, bei Westfleisch 7000 und bei Vion 3300 ehemalige Werkvertragsbeschäftigte tätig. Viele Fleischunternehmen arbeiten dennoch nach wie vor mit Subunternehmen zusammen. Letztere treten nun unter anderem als Personalvermittler auf. Teilweise arbeiten sie die aus Osteuropa neu angekommenen Beschäftigten im Betrieb ein und geben weiterhin Anweisungen. Dabei könnte es sich um einen Verstoß gegen das Arbeitsschutzkontrollgesetz handeln – schließlich dürfen nur noch beim Unternehmen direkt Angestellte im Kerngeschäft tätig werden. Problematisch ist auch, dass in aller Regel die alten Führungskräfte mit übernommen worden sind. Genau diese Personen hätten in der Vergangenheit enormen Druck auf Beschäftigte ausgeübt, heißt es in der Analyse. Missliebige Beschäftigte seien von ihnen schikaniert, bedroht und aussortiert worden. 

„Die Fortsetzung der alten Hierarchie- und Arbeitsstrukturen in den Fleischunternehmen führt dazu, dass viele ehemalige Werkvertragsbeschäftigte seit der Einführung des neuen Gesetzes kaum Veränderungen ihrer konkreten Arbeitssituation erlebt haben“, schreiben Schulten und Specht. Ein nachhaltiger Wandel erfordere eine neue Machtbalance in der Branche. Dafür müsste die betriebliche Mitbestimmung ausgebaut, ein umfassendes branchenweites Tarifvertragssystem entwickelt und nicht zuletzt die gewerkschaftliche Organisationsmacht gestärkt werden. Immerhin tut sich auch hier etwas: Durch zahlreiche Aktionen und Warnstreiks haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen den Druck auf die Arbeitgeberseite erhöht. Für die Branche ist das ungewöhnlich – in vielen Betrieben gab es zum ersten Mal überhaupt Warnstreiks. So gelang es im Juni 2021 der NGG, als ersten Schritt einen branchenweiten Mindestlohntarifvertrag abzuschließen. Der vereinbarte und mittlerweile allgemeinverbindlich erklärte Mindestlohn beträgt 11 Euro ab Januar 2022 und soll bis Dezember 2023 schrittweise auf 12,30 Euro steigen. Als Nächstes wollen Arbeitgeber und Gewerkschaft über einen Manteltarifvertrag verhandeln, der Arbeitszeiten, Urlaubstage, Sonderzahlungen und Zuschläge für Überstunden oder Nachtarbeit regeln soll. Mit den im Frühjahr 2022 anstehenden Betriebsratswahlen werden zudem viele neu zusammengesetzte Betriebsratsgremien entstehen. Ehemalige Werkvertragsbeschäftigte haben dann erstmals die Chance, für einen Betriebsrat zu kandidieren und ihre Anliegen selbst in die Hand zu nehmen.

Thorsten Schulten, Johannes Specht: Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz. Grundlegender Wandel in der Fleischindustrie? APuZ 51–52/2021, Dezember 2021

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