Quelle: HBS
Böckler ImpulsAufsichtsrat: EuGH schützt Mitbestimmung
Die Beteiligung von Gewerkschaften im Aufsichtsrat darf bei einer Umwandlung in eine SE nicht geschwächt werden. Das hat der Europäische Gerichtshof klargestellt. Es bestehen allerdings weitere Gesetzeslücken.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim Softwarekonzern SAP weiter uneingeschränkt gilt. Damit setzen die Luxemburger Richterinnen und Richter ein Signal, das weit über den konkreten Fall hinausgeht: „Der EuGH leistet einen wichtigen Beitrag dazu, Mitbestimmung zu schützen, indem er die Bedeutung der Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat für eine starke Arbeitnehmervertretung anerkennt. Dies hat eine große Tragweite“, sagt Sebastian Sick, Unternehmensrechtler im I. M. U. und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. Das Urteil habe bestätigt, dass alle prägenden Elemente der Mitbestimmung geschützt sind und dass deren Definition eine Angelegenheit des nationalen Rechts bleibt. „Das ist besonders bedeutsam, weil die demokratische Beteiligung im Arbeitsleben durch Rechtssetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene in den vergangenen Jahren allzu oft eher Gegenwind bekommen hat“, so Sick. „Es ist höchste Zeit, diesen Trend auch auf politischer Ebene zu drehen.“
SAP hatte sich 2014 von einer deutschen Aktiengesellschaft (AG) in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) umgewandelt. Bis dahin besetzte der Softwarekonzern seinen Aufsichtsrat gemäß deutschem Mitbestimmungsgesetz paritätisch. Die Hälfte der 16 Mitglieder waren Arbeitnehmervertreter und -vertreterinnen, darunter zwei von der Gewerkschaftsseite. Im Zuge der Umwandlung wurde zunächst ein Aufsichtsrat mit 18 Sitzen, darunter zwei für die Gewerkschaften, geschaffen. Die neue Regelung ermöglicht es dem Unternehmen allerdings auch, den Aufsichtsrat zukünftig auf zwölf Mitglieder zu verkleinern. In diesem Fall stünden den Gewerkschaften keine über einen gesonderten Wahlgang abgesicherten Sitze im Aufsichtsrat mehr zu. IG Metall und Verdi haben dagegen geklagt.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte bereits im August 2020 bestätigt, dass Unternehmen nach deutschem Recht auch bei einer Umwandlung in eine SE die gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter im Aufsichtsrat nicht ausschließen dürfen – anders als SAP argumentierte. Zugleich beschloss das BAG, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das EU-Recht in diesem Punkt das deutsche SE-Recht stützt. Mit seinem aktuellen Urteil hat der EuGH nun entschieden, dass die Beteiligung von Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern im Aufsichtsrat auch nach einem Wechsel der Rechtsform weiterhin dem nationalen Recht unterliegt. Ein prägendes Element der Mitbestimmung bleibt damit gewahrt. Dass Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter in den Aufsichtsräten großer Unternehmen mitwirken, stellt einen integralen Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes dar. Sie steuern einen überbetrieblichen Blickwinkel bei und stärken damit die Kompetenz der Arbeitnehmerseite und des Aufsichtsrates insgesamt.
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Ein Forschungsüberblick zur Wirkung von Mitbestimmung.
Mit seinem Urteil hat sich der EuGH gegen die Schwächung der Mitbestimmung bei der Umwandlung in eine SE ausgesprochen. Das sei eine wichtige Entscheidung angesichts der hohen europarechtlichen Relevanz des Verfahrens, sagt Sebastian Sick vom I. M. U. Denn: „Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen. Die Gerichtsentscheidungen zeigen allerdings, dass Unternehmen, die die SE zur Mitbestimmungsflucht nutzen, oft große Rechtsrisiken tragen.“
Eine aktuelle Studie des I. M. U. belegt: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken ausnutzen. Drei Viertel von ihnen nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, bei mindestens 300 000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen. „Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Im Fall SAP ist das gelungen, weitere Schritte müssen folgen“, erklärt Sick.
Dass eine starke Mitbestimmung, die auch überbetriebliche Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen. So zeigen mehrere Studien von Forschenden der Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen sowie des Wissenschaftszentrums Berlin, dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch Umbruchphasen und Krisen kommen als Firmen ohne Mitsprache – ein Befund, der aktuell besonders bedeutsam sein dürfte. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler, betreiben seltener aggressive Steuervermeidung und gehen bei Zukäufen weniger Risiken ein.
Weitere Lücken in den Gesetzen
Auch jenseits der aktuellen gerichtlichen Auseinandersetzung ist der Bedarf groß, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen. Dabei ist in erster Linie der deutsche Gesetzgeber gefragt. Beispielsweise werden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder von 2000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise dauerhaft aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das hat längst drastische Folgen: Bei vier von fünf in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2000 Beschäftigten fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind Dax-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil so das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen verhindert wird, betont Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I. M. U..
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche Verbesserungen angekündigt. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, Mitbestimmung durch Gründung einer SE auszuhebeln. Auch die sogenannte Drittelbeteiligungslücke im Konzernrecht soll geschlossen werden. „Dass die Ampelkoalition die Unternehmensmitbestimmung als wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Wirtschaft anerkennt und schützen will, ist ein Fortschritt. Aber die Bundesregierung muss auch liefern“, sagt Hay. „Darüber hinaus gibt es weitere Lücken in den Gesetzen. Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten“, erklärt Hay. Zudem müsse die Bundesregierung auf europäischer Ebene Mindeststandards der Unternehmensmitbestimmung durchsetzen.