Quelle: HBS
Böckler ImpulsUnternehmensmitbestimmung: Einzelfälle machen noch keinen Trend - von Flucht kann keine Rede sein
Seit Allianz-Chef Michael Diekmann vor gut zwei Monaten sein Vorhaben ankündigte, Europas größten Versicherer in eine Europäische Aktiengesellschaft umzuwandeln, häufen sich die Berichte über einen angeblich neuen Trend zur Aushebelung der Unternehmensmitbestimmung. Belege dafür? Keine, urteilt der Wirtschaftsrechtsexperte Roland Köstler.
Heimlich würden Unternehmen derzeit den Arbeitnehmereinfluss bei der Mitbestimmung zurückschrauben, heißt es in manchen Artikeln in der Wirtschaftspresse. Dynamik erfahre diese Entwicklung, weil die seit kurzem zulässige Rechtsform der Societas Europaea (SE) neue Möglichkeiten biete. Richtig ist: Die Europa AG soll grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse und -kooperationen innerhalb der EU erleichtern. "Eine Strategie gegen Unternehmensmitbestimmung ist sie nicht", sagt Köstler, Experte für Wirtschaftsrecht in der Hans-Böckler-Stiftung. Zwar können Arbeitnehmervertreter und Unternehmensleitung sich binnen sechs Monaten über eine neue Form der Mitbestimmung verständigen. Gelingt dies nicht, greift aber die bislang geltende - im Fall der Allianz deutsche - Variante.
Köstler hat die aktuell beschriebenen angeblichen Fluchtwege aus der Mitbestimmung systematisch auf ihre Substanz hin untersucht. Wenig Substanz attestiert er Gedankenspielen von Unternehmensberatern und Anwälten, wonach die Mitbestimmung bei Gründung einer SE eingefroren werden könnte. So kursieren Ideen, ein bislang nicht mitbestimmtes Unternehmen könne sich zu einer Europa AG umwandeln und so vermeiden, dass es später nach deutschem Recht mitbestimmungspflichtig wird, wenn es mehr Beschäftigte einstellt. "Bei einer SE ist wieder mit den Arbeitnehmern zu verhandeln, wenn strukturelle Änderungen erfolgen", so der Wirtschaftsrechtler.
Einige wenige Unternehmen versuchen, mit einer so genannten Vorratsgründung - der Gründung eines Unternehmens ohne Beschäftigte - Verhandlungen über die Mitbestimmung zu vermeiden. Ein Verzicht auf Mitbestimmung sei möglich, aber eben nur von dem korrekt für derartige Verhandlungen zu bildenden Besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmerseite, urteilt der Oldenburger Jura-Professor Thomas Blanke.* Mit dem Argument, die zukünftige SE habe keine Arbeitnehmer, könne sich niemand über die Vorschriften zur Gründung hinwegsetzen. So verweigerte denn auch das Landgericht Hamburg kürzlich einer arbeitnehmerlosen SE die Eintragung in das Handelsregister.
=> Mitbestimmung hat Bestand
Eine andere These besagt, es sei mit der Mitbestimmung gänzlich vorbei, wenn eine ausländische Holding einen bislang mitbestimmten deutschen Konzern aufkaufe. "Bei Vodafone Deutschland gibt es trotz Übernahme einen 16-köpfigen mitbestimmten Aufsichtsrat", so Köstler. Ende 2004 gehörten von den 746 Unternehmen mit paritätisch besetzten Aufsichtsräten 15,3 Prozent unmittelbar und 13,6 Prozent mittelbar ausländischen Investoren.
Die - seit Jahrzehnten umstrittene - Möglichkeit, eine deutsche Kommanditgesellschaft zu gründen und eine ausländische Kapitalgesellschaft als Komplementärin einzusetzen, wird zwar tatsächlich genutzt. Trotzdem fielen Ende 2004 immerhin 33 Kapitalgesellschaften & Co unter die deutsche Mitbestimmung, während es 1978 erst 8 waren.
Ein weiteres, recht junges Phänomen ist die Gründung einer Limited, also einer britischen GmbH. Wie viele Gesellschaften in einer solchen Rechtsform tatsächlich in Deutschland tätig sind, lässt sich derzeit nicht einfach ermitteln. Nach den Monatsberichten des Statistischen Bundesamtes waren unter den Gewerbeanmeldungen von Januar bis Juli 2005 monatlich durchschnittlich 6.000 GmbH-Gründungen, aber nur knapp 400 Gründungen einer Zweigniederlassung einer Limited. Mit dem Vermeiden von Unternehmensmitbestimmung hat dieser Trend jedoch nichts zu tun: "Die Limited ist die Rechtsform der Handwerker und des Kleingewerbes", sagt Roland Köstler. Es sei keine in Deutschland tätige Limited bekannt, die - wäre sie eine deutsche Kapitalgesellschaft - wegen ihrer Größe der deutschen Mitbestimmung unterliegen würde.
Prof. Dr. Thomas Blanke: "Vorrats-SE" ohne Arbeitnehmerbeteiligung, Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Oktober 2005, Böckler edition 161.
Mitbestimmte Unternehmen 2004: Ein leichter Rückgang, in: Magazin Mitbestimmung 5/2005.
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