Quelle: HBS
Böckler ImpulsUnternehmensmitbestimmung: Eingefrorene Rechte
Die Europäische Aktiengesellschaft wird häufig genutzt, um Mitbestimmung der Beschäftigten im Aufsichtsrat zu umgehen. In Deutschland betrifft das vier von fünf Unternehmen mit dieser Rechtsform. Es ist an der Zeit, die Gesetzeslücken zu schließen.
Seit 20 Jahren gibt es in der EU die Europäische Aktiengesellschaft (SE). Seit gut zehn Jahren steigt die Zahl der Unternehmen mit dieser Rechtsform stetig an, gerade in der Bundesrepublik. Mehr als die Hälfte der operativ tätigen SE in der EU haben ihren Sitz in Deutschland. Etliche von ihnen sind fast nur im Inland aktiv, obwohl die SE eigentlich dazu dienen sollte, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Arbeit zu erleichtern. Für das Arbeitnehmerrecht auf Mitbestimmung ist die SE in Deutschland zu einem großen Problem geworden, zeigt eine Analyse des I.M.U. „Schwächen in der Gesetzgebung lassen es zu, die SE als Vehikel zur Mitbestimmungsvermeidung zu missbrauchen“, sagt Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. Immerhin hätten die Parteien der Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag erklärt, dass sie die „missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts verhindern wollen“. Daran müsse sich die neue Regierung – nicht nur im Zusammenhang mit der SE – messen lassen. Mitbestimmungsrechte sollten unabhängig von der Rechtsform eines Unternehmens gelten, so Hay.
Von den 424 im Juli 2021 aktiven deutschen SE haben 107 mehr als 2000 Beschäftigte im Inland. Wären sie Aktiengesellschaften (AG) nach deutschem Recht, könnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zahlenmäßig paritätisch mitentscheiden – so wie in den aktuell 211 deutschen AG mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland. Doch tatsächlich verfügen nur 21 der 107 großen SE über Aufsichtsräte, in denen zur Hälfte Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten sitzen. Vier von fünf großen SE vermeiden also paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat. Davon sind aktuell mehr als 300 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, die Tendenz ist seit Jahren steigend.
Mitbestimmung wird „eingefroren“
Anders als bei einer deutschen AG oder GmbH, deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 501 beziehungsweise 2001 inländischen Beschäftigten ein Drittel beziehungsweise die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat zustehen, finden die deutschen Mitbestimmungsgesetze auf die SE bisher keine Anwendung. Hier gilt: Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgelegte Mitbestimmungsstatus bleibt für immer. Wachsende Unternehmen, die Arbeitnehmerbeteiligung verhindern wollen, firmieren deshalb häufig dann in eine SE um, wenn sie sich den einschlägigen Schwellenwerten bei den Beschäftigtenzahlen nähern. Geschieht das beispielsweise bei bis zu 500 Beschäftigten im Unternehmen, wenn noch kein Anspruch auf Beteiligung im Aufsichtsrat besteht, kann dieser Zustand dauerhaft festgeschrieben werden, egal, wie groß das Unternehmen später noch wird. Fachleute bezeichnen dieses Vorgehen auch als „Einfrieren“. Bei den 21 SE, die aktuell paritätisch mitbestimmt sind, handelt es sich ganz überwiegend um große Unternehmen, die schon vor der Umwandlung in eine SE einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat hatten, oder um Tochtergesellschaften sehr großer paritätisch mitbestimmter Unternehmen. Einige EU-Staaten beugen dem „Einfrieren“ bereits gesetzlich vor. Auch die neue Bundesregierung will das Problem angehen. Im Koalitionsvertrag heißt es, dass „vollständige Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften“ künftig verhindert werden soll.
Viele Mitbestimmungsvermeider in Familienhand
Besonders verbreitet ist die Vermeidung von Mitbestimmung laut der I.M.U.-Analyse in Unternehmen, die die europäische Rechtsform SE nutzen, obwohl sie ausschließlich oder überwiegend im Inland tätig sind. Dazu zählt beispielsweise die Sicherheits-, Reinigungs- und Leiharbeitsfirma Kötter Services. Auch große Unternehmen in Familienhand firmieren sehr häufig als SE und umgehen Mitbestimmung, etwa Deichmann oder Sixt. Außerdem fallen oft große SE aus den Bereichen Gesundheit und Wohnungswirtschaft als Mitbestimmungsvermeider auf. Beispiele sind Schön Klinik, Alloheim Senioren-Residenzen, Vonovia oder Deutsche Wohnen.
Unter börsennotierten Unternehmen gibt es ebenfalls eine Reihe von Mitbestimmungsvermeidern. Von den 40 Unternehmen im Dax firmieren 14 als SE. Lediglich 4 davon – Allianz, BASF, Eon und SAP – haben einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. Bei allen anderen ist nach der I.M.U-Analyse eine geringere oder sogar gar keine Mitbestimmung im Aufsichtsrat dauerhaft festgeschrieben, egal wie groß sie noch werden. Beispiel Vonovia: Der Wohnungskonzern mit gut 10 000 Beschäftigten hat keinerlei Beschäftigtenmitsprache im Aufsichtsrat. Beispiel Zalando: Dort haben Vertreterinnen und Vertreter der Beschäftigten lediglich ein Drittel der Sitze, weil der Onlinehändler die Umwandlung zur SE kurz vor Erreichen des Schwellenwerts von 2000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abgeschlossen hat.
Ohne paritätische Mitbestimmung keine Frauenquote
Das bedeutet auch: Bei 10 der 14 SE im wichtigsten deutschen Börsenindex gilt die verbindliche Geschlechterquote für Aufsichtsrat und Vorstand nicht. Denn das entsprechende Gesetz bezieht sich allein auf Unternehmen, die paritätisch mitbestimmt sind. Zusätzlich zum Problem der Mitbestimmungsumgehung laufe dies dem gesetzgeberischen Ziel zuwider, Gleichstellung zu fördern, erklärt Sebastian Sick, I.M.U.-Experte für Unternehmensrecht und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex.
Felix Gieseke, Fokko Misterek, Sebastian Sick: 20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft, 4 von 5 großen SE vermeiden paritätische Mitbestimmung, Mitbestimmungsportal der Hans-Böckler-Stiftung, November 2021