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Die neue Unterschicht Böckler Impuls

Digitalisierung: Die neue Unterschicht

Ausgabe 07/2023

Digitalisierung und Automatisierung sind auf dem Vormarsch. Das bedeutet aber nicht, dass einfache Tätigkeiten nur noch von Maschinen ausgeführt werden. Im Gegenteil.

Neue Technologien ermöglichen es Unternehmen, sogenannte Einfacharbeit stärker zu rationalisieren und auszuweiten. Statt Tätigkeiten zu automatisieren, ist es oft kostengünstiger, sie von billigen Arbeitskräften ausführen zu lassen, die von Algorithmen dirigiert werden. Häufig sind es Zugewanderte, denen es an Qualifikation und Sprachkenntnissen mangelt, die diese stark entwerteten Tätigkeiten übernehmen. Es besteht die Gefahr, dass eine neue „digitale Unterschicht“ entsteht. Das zeigt eine Studie von Simon Schaupp, Experte für Digitalisierung der Arbeitswelt am Karlsruher Institut für Technologie.

Die Analyse basiert auf Befragungen zur Digitalisierung von Produktion und Logistik in Deutschland, die zwischen 2017 und 2020 durchgeführt und 2022 erweitert wurden. Im Zentrum stehen 55 qualitative Interviews und Beobachtungen in vier Unternehmen aus den Branchen Chemie, Maschinenbau, Online-Versandhandel und Lieferdienste. Die Unternehmen haben einen vergleichsweise hohen Anteil an Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Zudem setzen sie Technologien der algorithmischen Arbeitssteuerung ein. Das heißt: Die Beschäftigten müssen nur noch ausführen, was ihnen eine Software beziehungsweise App vorgibt. Die Anforderungen an ihre Qualifikation sinken dadurch drastisch. 

In einem der untersuchten Unternehmen erklärte ein Manager, dass die algorithmische Arbeitssteuerung mit dem Ziel eingeführt wurde, möglichst viele billige und gering qualifizierte Arbeitskräfte einzusetzen. Um dies zu erreichen, wurden gut Ausgebildete angewiesen, detaillierte Anleitungen ihrer Arbeitsprozesse in schriftlicher und bildlicher Form zu erstellen. Mit diesen Daten wurden dann Assistenzsysteme programmiert, die den zukünftigen Beschäftigten die einzelnen Arbeitsschritte erklären. Ziel war es, dass „jeder von der Straße“ die Montage durchführen kann. Der Einsatz billiger Arbeitskräfte wurde ausdrücklich als Alternative zur teureren Automatisierung gesehen. „Man kann nämlich vieles nicht unbedingt über den Roboter machen, sondern wenn die Mitarbeiter günstiger wären, könnte ich das per Hand machen lassen“, so der Manager.

In allen Fällen ermöglichte die algorithmische Arbeitssteuerung es den Unternehmen, Beschäftigte schneller einzuarbeiten, aber auch schneller wieder loszuwerden. Je nach Marktlage passten die Firmen die Größe der Belegschaft flexibel an. Dies führte insbesondere beim Versandhändler und beim Lieferdienst zu einer hohen Personalfluktuation. Ein Mitarbeiter des Lieferdienstes schätzte die durchschnittliche Beschäftigungsdauer an seinem Standort auf drei Monate.

Sehr häufig rekrutierten die Unternehmen Menschen mit Migrationshintergrund und geringen Deutschkenntnissen, die bereit waren, befristete und schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Der Versandhändler stellte gezielt Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus ein. Betriebsratsmitglieder berichteten von einer Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und der Kommune, die es ermöglichte, Geflüchtete direkt aus Asylbewerberheimen „auszuleihen“.

Aufgrund ihrer prekären Situation und mangelnder Alternativen entwickelten viele dieser Beschäftigten ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber. Der daraus resultierende Gehorsam wurde von den befragten Personalverantwortlichen positiv hervorgehoben. So meinte ein Manager, dass Nichtdeutsche „überhaupt keine Angst vor Kontrolle“ hätten und „wir Deutschen da viel schlimmer sind“. In einigen Fällen gelang es den Beschäftigten jedoch, „widerständige Solidaritätskulturen“ aufzubauen, so Schaupp. Zwar könne die algorithmische Steuerung der Arbeit stellenweise die Kontrolle über die Beschäftigten verstärken. Aber sie führe auch zu einer stärkeren Trennung zwischen ausführenden Arbeitskräften und Management. In den untersuchten Betrieben nutzten Beschäftigte diese Lücke, um Kritik auszutauschen, ohne dass Vorgesetzte dies von vornherein unterbinden konnten. So gründeten Kuriere und Kurierinnen eine Selbsthilfegruppe. Daraus entwickelte sich später eine allgemeine Betriebsgruppe, die zur Basis gewerkschaftlicher Organisierung wurde.

Die Digitalisierung reduziere die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften nicht. Vielmehr scheine sie einen „polarisierenden Effekt auf Qualifikationen und Löhne“ zu haben, folgert der Forscher. Die Aufwertung von Arbeitsplätzen betreffe vor allem diejenigen, die digitale Systeme programmieren und steuern. Bei anderen Gruppen, etwa bei der manuellen Arbeit in Produktion und Logistik, seien Abwertungstendenzen zu beobachten. Dies gelte insbesondere für Migrantinnen und Migranten.

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