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Interview PH HERO Böckler Impuls

Mitbestimmung : "Die Bundesregierung muss liefern"

Ausgabe 12/2022

Die Bundesregierung hat sich darauf festgelegt, der Mitbestimmungsumgehung entgegenzutreten. Ein aktueller Gesetzentwurf zur grenzüberschreitenden Umwandlung von Unternehmen in eine andere Rechtsform wird diesem Anspruch aber nicht gerecht, erläutern die I.M.U.-Experten Daniel Hay und Sebastian Sick.

Worum geht es bei der Umsetzung der europäischen Umwandlungsrichtlinie in deutsches Recht? 

Daniel Hay: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit konnten sich Unternehmen grenzüberschreitend umwandeln, den Sitz über die Grenze verlegen und eine Rechtsform eines anderen Landes annehmen. Angesichts der damit verbundenen Gefahren war eine EU-Richtlinie zum Schutz von Beschäftigten, Gläubigern und Minderheitsgesellschaftern sowie für die nötige Rechtssicherheit erforderlich. Die Umwandlungsrichtlinie – oder Mobilitätsrichtlinie – regelt die grenzüberschreitende Umwandlung, die grenzüberschreitende Spaltung und grenzüberschreitende Verschmelzung.

Und wie könnten sich Unternehmen beim Rechtsformwechsel der Mitbestimmung entziehen?

Sebastian Sick: Wenn Unternehmen den Firmensitz nach Deutschland oder aus Deutschland heraus verlegen, muss grundsätzlich die Mitbestimmung zwischen Beschäftigten und Unternehmen verhandelt werden – ähnlich wie bei der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft, der SE. Kommt es zu keiner Einigung auf ein neues Modell, bleibt das aktuelle Modell der Mitbestimmung bestehen. Mit dieser Auffanglösung kann das bestehende Niveau prinzipiell gesichert werden. Allerdings wird ein späteres Anwachsen der Belegschaft in Deutschland oder anderswo nicht berücksichtigt, sodass ein späteres Hineinwachsen in die Mitbestimmung oder ein höheres Mitbestimmungsniveau mit etwa einem paritätisch besetzten Aufsichtsrat nicht mehr zustande kommt. So besteht die Gefahr, dass Unternehmen sich „vorbeugend“ der Mitbestimmung entziehen, solange sie noch klein sind. Bei der SE ist das als „präventives Einfrieren“ bekannt. Aber auch ein gesichertes Mitbestimmungsniveau kann noch nachträglich abgestreift werden. Denn das Verhandlungsergebnis ist nach der EU-Richtlinie nur für vier Jahre gesichert. Danach können Unternehmen sich in eine Rechtsform ohne Mitbestimmung umwandeln, sofern die Gesetze am neuen Standort dies zulassen. So könnte beispielsweise eine mitbestimmte AG mit 4000 Beschäftigten nach Spanien umziehen, nach vier Jahren mit einer spanischen Gesellschaft verschmelzen und sich der Mitbestimmung dauerhaft entledigen. 

Wie müsste der Gesetzentwurf der Bundesregierung verändert werden, um Missbrauch zu verhindern?

Sebastian Sick: Die Richtlinie wird in zwei Gesetzentwürfen umgesetzt. Der Referentenentwurf eines Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bei grenzüberschreitendem Formwechsel und bei grenzüberschreitender Spaltung, das MgFSG, regelt das Verhandlungsverfahren bei Zuzug nach Deutschland. Dieser Entwurf versäumt, das Problem des Einfrierens anzugehen. Besser wäre es, Neuverhandlungen zu ermöglichen, wenn die Belegschaft wesentlich wächst. Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie, abgekürzt: UmRUG, regelt dagegen die Fälle des Wegzugs aus Deutschland. Auch dieser Entwurf hat weitreichende Folgen für die Mitbestimmung. Hier muss das Registergericht dem Unternehmen eine Vorabbescheinigung für den Zuzugsstaat ausstellen. Dabei hat es eine Missbrauchskontrolle vorzunehmen. Der Entwurf ist unzureichend. Es fehlen ausreichende Vorgaben zum Schutz der Mitbestimmung. Die Bundesregierung setzt damit nicht die im Koalitionsvertrag angekündigten Möglichkeiten zum Schutz der Mitbestimmung um. Die Fluchtmöglichkeiten werden gegenüber der EU-Vorgabe sogar noch erweitert. Sinnvoll wären dagegen mitbestimmungssichernde Kriterien, bei denen das Registergericht die Wegzugbescheinigung versagen muss. Und die Gewerkschaften sollten Verfahrensbeteiligte mit Antragsrecht und Beschwerdemöglichkeit beim Registergericht sein. Sonst drohen neue Schlupflöcher für die Mitbestimmung.

Welche weiteren Maßnahmen wären notwendig, um bereits existierende Schlupflöcher zu schließen?

Daniel Hay: Erstens sollte generell das Einfrieren bei SE und anderen europäischen Sachverhalten beendet werden. Die SE-Gesetzgebung braucht ein dynamisches Element, das bei erheblichem Belegschaftszuwachs greift, so dass die Mitbestimmung mitwächst, wie es nach dem deutschen Recht üblich ist. Zweitens sollten die deutschen Mitbestimmungsgesetze auch auf ausländische Rechtsformen erstreckt werden. In Europa brauchen wir parallel dazu eine Rahmenrichtlinie mit Mindeststandards zur Mitbestimmung. Drittens sollte die sogenannte Drittelbeteiligungslücke geschlossen werden. Das heißt, Beschäftigte sollten konzernweit auch im faktischen Konzern gezählt werden, wenn es um die Anwendung des Drittelbeteiligungsgesetzes ab 501 Beschäftigten geht. So ist es seit jeher im Gesetz für die paritätische Mitbestimmung der Fall. Zuletzt sollten Sanktionen gegen rechtswidrige Nichtanwendung der Mitbestimmungsgesetze geschaffen werden. Im Koalitionsvertrag ist einiges angekündigt. Die Bundesregierung muss jetzt liefern.

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