Quelle: HBS
Böckler ImpulsMitbestimmung in Europa: Demokratie darf nicht am Werkstor enden
Es gibt viele gute Argumente für mehr Demokratie am Arbeitsplatz. Ein Ausbau der Mitbestimmung könnte die EU auch politisch stabilisieren.
Demokratie zählt zu den Leitprinzipien der Europäischen Union. Und das gilt nicht nur für die politische Sphäre: Auch in der Arbeitswelt sollte Mitsprache möglich sein. Dennoch gerät die Demokratie am Fabriktor oder an der Schwelle zum Büro häufig ins Straucheln, konstatiert der jüngste Bericht zur Lage der Arbeitnehmer in Europa, den das Europäische Gewerkschaftsinstitut ETUI vorgelegt hat. Die Autoren haben den Status quo in den EU-Staaten analysiert und kommen zu dem Schluss: Die Beteiligungsrechte am Arbeitsplatz sind nicht hinreichend entwickelt – obwohl viele, auch ökonomische, Argumente für mehr Mitbestimmung der Beschäftigten sprechen.
Warum Demokratie am Arbeitsplatz?
Selbstbestimmung, persönliche Autonomie, Emanzipation: Das sei heute überall selbstverständlich, nur noch nicht in der Wirtschaft, so der ETUI-Bericht. Dies widerspreche dem „universellen“ Anspruch der Demokratie. Dabei versteht das internationale Autorenteam unter „Demokratie am Arbeitsplatz“ kein bestimmtes Mitsprachemodell, sondern alle Mechanismen, die der „Stimme der Arbeit“ Gehör verschaffen und Beschäftigten zu Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit oder die Ausrichtung des Unternehmens verhelfen; vorausgesetzt, es handelt sich um wirklich durchsetzbare Rechte, nicht um unverbindliches Entgegenkommen eines wohlwollenden Arbeitgebers. Das heißt: Es geht um eine echte Einschränkung der Verfügungsmacht von Managern und Investoren, wie sie in Deutschland die Mitbestimmung sicherstellt.
Eine lange Reihe theoretischer, normativer und empirischer Argumente spricht ETUI zufolge dafür, die Entscheidungsspielräume der Kapitalseite zugunsten der Arbeitnehmer zu beschneiden. Dass dies unerlässlich sei, ergebe sich bereits aus grundlegenden Prinzipien des westlichen Liberalismus und den daraus hervorgegangenen Menschenrechten. Arbeit werde von Menschen verrichtet und sei deshalb keine Ware wie jede andere. Daher verbiete sich für Arbeitgeber ein rein „instrumenteller“ Umgang mit ihren Angestellten. Den Einwand, es werde doch niemand zu etwas gezwungen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber würden sich schließlich einvernehmlich auf eine Vertragsbeziehung – mit oder ohne Mitbestimmungsrechte – einigen, lassen die ETUI-Autoren nicht gelten. Dies sei eine realitätsferne theoretische Konstruktion; im wahren Leben seien die Arbeitnehmer fast immer in einer schwächeren Verhandlungsposition. Das erfordere eine besondere juristische Absicherung ihrer elementaren Rechte.
Ein anderer, politikwissenschaftlicher, Argumentationsstrang zielt auf den Schutz der Gemeinschaft vor der Willkürherrschaft einer kleinen Kaste von Mächtigen. Auf politischer Ebene gibt es Wahlen und Gewaltenteilung, um solchen Machtmissbrauch zu verhindern. Analoge Mechanismen sollten dann auch im wichtigen gesellschaftlichen Teilsystem Wirtschaft zum Zuge kommen – schließlich verbringen wir einen großen Teil unserer aktiven Lebenszeit mit Erwerbsarbeit. Mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz würde auch das politische System stabilisieren, da sie quasi als Schule der Demokratie fungieren könnte, erwarten Wissenschaftler. In der Tat zeigen Studien, dass Menschen, die am Arbeitsplatz mitentscheiden können, nach Feierabend politisch aktiver sind als solche, die sich mit einem Status als reine Befehlsempfänger abfinden müssen.
Der Stakeholder-Ansatz geht davon aus, dass gerade bei großen Unternehmen mit vielen Anteilseignern potenziell ein gewisses Kontrolldefizit besteht. Damit der Vorstand die Unternehmenspolitik nicht nach Gutdünken bestimmen kann, sollten die verschiedenen Gruppen, die am langfristigen Wohl des Unternehmens interessiert sind, Einfluss auf strategische Entscheidungen bekommen. Dazu gehören besonders die Beschäftigten, die „ihre Arbeit investiert“ haben und deren Haupteinkommen in der Regel vom Unternehmen abhängt – während die Anteile an einer bestimmten Firma für Aktionäre oft nur einen kleinen Teil ihres Portfolios ausmachen. Deshalb sollten Vertreter der Arbeitnehmer „wenigstens so viel“ Einfluss haben wie die Kapitaleigner. Zumal die Beschäftigten das Unternehmen am besten kennen und damit die Qualität der Managemententscheidungen oft deutlich steigern können, wie Experten für Unternehmensführung wissen.
Mitbestimmungskritiker wenden ein, dass die Aktionäre nun einmal die Eigentümer der Unternehmen seien und ihnen folglich niemand hineinzureden habe, wie sie mit ihrem Eigentum verfahren. Dies sei jedoch ein Trugschluss, schreiben die ETUI-Autoren. Die europäischen Rechtsordnungen legten keineswegs fest, dass Eigentum automatisch mit uneingeschränkten Verfügungsrechten verbunden ist. So gebe es etwa Aktien ohne Stimmrecht. Ein anderes Beispiel: Man kann ein Haus erben, in dem jemand anderes ein Wohnrecht hat, der daher vom Eigentümer nicht auf die Straße gesetzt werden kann. Solche Beschränkungen der Eigentumsrechte seien etwas völlig Normales, so der Report.
Schließlich betrachten viele Gesellschaftswissenschaftler die Mitbestimmung der Beschäftigten schon deshalb als eine Voraussetzung für eine faire Gesellschaft, weil sie helfen könne, die Ungleichheit zu reduzieren. Und eine eher egalitäre Verteilung der Einkommen sei eine bessere Voraussetzung für eine funktionierende politische Demokratie als ein großes Einkommens- und damit Machtgefälle zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.
Was Demokratie in der Wirtschaft bewirkt
Einige sehr schematisch denkende Ökonomen glauben: Je mehr Rechte die Beschäftigten haben, desto mehr werden sie für sich herausschlagen und damit die wirtschaftliche Effizienz eines Unternehmens oder der ganzen Volkswirtschaft untergraben. Doch die Realität sieht anders aus. So zeigt ein internationaler Vergleich: In Ländern mit stärker ausgeprägter Arbeitnehmerbeteiligung ist die Arbeitsproduktivität höher. „Demokratie am Arbeitsplatz bedeutet deshalb nicht, dass die Wirtschaft ineffizient ist“, folgern die Autoren. Die Erklärung: Mehr Rechte für Beschäftigte führen offenbar nicht dazu, dass die sich zurücklehnen, sondern verbessern die Motivation und erhöhen die Bereitschaft, eigenes Wissen und eigene Erfahrungen einzubringen. Dazu passt der Befund, dass mitbestimmte Unternehmen innovativer sind als andere.
Auch auf die Beschäftigung wirkt sich Partizipation positiv aus. Die Befürchtung von Skeptikern, zu großer Einfluss von Arbeitnehmervertretern schraube die Arbeitsstandards so hoch, dass die geringer Qualifizierten keine Jobs mehr finden, kann laut ETUI als widerlegt betrachtet werden. Im Schnitt haben stärker mitbestimmte Länder auch höhere Beschäftigungsquoten. Ähnliches gilt für die Verteilung der Einkommen: Mitbestimmung reduziert die Ungleichheit, etwa indem sie für höhere Löhne sorgt.
Arbeitnehmervertreter können auch allzu risikofreudige und kurzsichtige Manager in die Schranken weisen, was einer nachhaltigen Unternehmensführung zugutekommt. Studien belegen außerdem eine Reihe weiterer Vorzüge von Mitsprachemöglichkeiten der Arbeitnehmer. So liegen mitbestimmte Unternehmen vorn, wenn es um die Zufriedenheit oder die Gesundheit der Beschäftigten geht.
Mitbestimmung für alle?
All diese Befunde legen einen Ausbau der Demokratie am Arbeitsplatz nahe, schreiben die ETUI-Experten. Allerdings gebe es in dieser Richtung kaum Bewegung. Während die institutionellen Rahmenbedingungen für die länderübergreifende Integration von Unternehmen ausgebaut würden, hinke die EU hinterher, was deren logisches Gegenstück betrifft: länderübergreifende Mitbestimmungsregeln. Die im EU-Vertrag von Lissabon ausgerufenen demokratischen Arbeitnehmerrechte harren weiter ihrer Konkretisierung und Umsetzung. Gerade in Zeiten einer allgemeinen Legitimationskrise der EU sei es „töricht, das demokratische Potenzial von Eurobetriebsräten und demokratischen Rechten am Arbeitsplatz im Allgemeinen zu ignorieren“, urteilen die Autoren. Es sei bedauerlich, dass die 2017 errichtete „Säule sozialer Rechte“ oder das kürzlich in Kraft gesetzte „Unternehmensrechtspaket“ hier keinen Fortschritt gebracht hätten.
ETUI: Benchmarking Working Europe 2019, März 2019