Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Corona verstärkt die Ungleichheit
Niedrigverdienende haben starke Einbußen durch die Coronakrise erlitten. Auch Teile der Mitte drohen zurückzufallen. Tarifbindung sichert Einkommen.
Der Abstand zwischen hohen und niedrigen Einkommen in Deutschland wird durch die Corona-Pandemie weiter wachsen. Menschen mit schon vorher niedrigen Einkommen sind im bisherigen Verlauf der Krise fast doppelt so häufig von Einbußen betroffen wie Menschen mit hohen Einkommen. Damit verschärft sich ein Trend, der schon die wirtschaftlich starken 2010er-Jahre gekennzeichnet hat. Das zeigt der aktuelle WSI-Verteilungsbericht von Bettina Kohlrausch, Aline Zucco und Andreas Hövermann. Das Forscherteam hat die neuesten vorliegenden Daten zur Einkommensentwicklung analysiert. Bis zum Jahr 2017 stammen die Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), für das Jahr 2020 aus der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung.
„Deutschland ist bislang besser durch die Coronakrise gekommen als viele andere Länder. Trotzdem gilt auch bei uns: Menschen, die zuvor schon wenig hatten, sind besonders oft und besonders hart von wirtschaftlichen Verlusten betroffen. Denn sie arbeiten oft an den Rändern des Arbeitsmarktes. Dort werden sie nur unzureichend durch Schutzmechanismen in den Sozialversicherungen oder durch Tarifverträge erfasst, die viele Beschäftigte im mittleren Einkommensbereich bisher recht effektiv vor drastischen Einkommenseinbußen bewahrt haben“, fasst Kohlrausch die Ergebnisse zusammen. „Ob wir es schaffen, die Pandemie ohne tiefe gesellschaftliche Risse zu überstehen, wird wesentlich von zwei Faktoren abhängen“, so die wissenschaftliche Direktorin des WSI und Professorin für gesellschaftliche Transformation an der Universität Paderborn: „Erstens müssen soziale Sicherung und Kollektivverträge gestärkt werden. Die Krise zeigt, dass sie Aktivposten unserer sozialen Marktwirtschaft sind. Zweitens müssen Haushalte mit geringeren Einkommen besser als bisher gegen noch größere Einbußen geschützt werden.“ Gelinge das nicht, könnte das dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland schaden.
Im Vergleich der Industrieländer liegt die Ungleichheit in Deutschland auf einem mittleren Niveau, doch die Einkommen sind aktuell deutlich ungleicher verteilt als noch in den 1990er-Jahren. Rund um die Jahrtausendwende stiegen höhere Einkommen stark, während mittlere und insbesondere niedrigere Einkommen zurückblieben. Der Gini-Koeffizient, der den Grad der Ungleichheit auf einer Skala von 0 bis 1 misst, stieg zwischen 1999 und 2005 von knapp 0,25 auf 0,289 – eine für diesen kurzen Zeitraum im internationalen Vergleich starke Zunahme. Nach einer Phase mit wenig Bewegung kletterte er im Jahr 2013 auf 0,294 – das war die größte gemessene Einkommensungleichheit seit Einführung des SOEP. Bis zum Jahr 2017 fiel der Wert leicht auf 0,289. Das lässt sich nach der WSI-Analyse wesentlich auf die solide Entwicklung der mittleren Einkommen zurückführen. Ein wichtiger Faktor dafür: spürbar steigende Tariflöhne.
Zugleich lag aber der Anteil der Haushalte, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben und damit nach gängiger Definition als arm gelten, 2017 mit 16 Prozent um zwei Prozentpunkte höher als 2010. Überproportional von Armut betroffen sind Alleinerziehende, Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und Ostdeutsche. Dagegen haben Personen mit Hochschulabschluss, Selbstständige, Beamte und Angestellte ein deutlich unterdurchschnittliches Armutsrisiko.
Niedrigverdiener leiden unter Coronakrise
In der Coronakrise hat sich der Rückstand der niedrigen Einkommen noch verschärft. Und diesmal fallen auch Haushalte im unteren Bereich der mittleren Einkommensgruppen gegenüber jenen mit hohen Einkommen zurück: Je niedriger ihr Einkommen schon vor der Krise war, desto häufiger haben Befragte im Zuge der Pandemie an Einkommen eingebüßt. Zudem steigt mit abnehmendem Einkommen auch der relative Verlust. Wer weniger hatte, hat auch viel verloren.
Konkret haben im Durchschnitt aller Befragten bis Juni 2020 knapp 32 Prozent Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Bei denjenigen mit Haushaltseinkommen unter 1500 Euro netto monatlich lag der Anteil deutlich über 40 Prozent. In der untersten der mittleren Einkommensgruppen, die zuvor ein monatliches Nettoeinkommen von 1500 bis 2000 Euro hatte, waren knapp 37 Prozent betroffen. Von den Befragten mit Haushaltsnettoeinkommen über 4500 Euro berichteten lediglich rund 26 Prozent von Einbußen. Schaut man auf das Beschäftigungs- und Sozialprofil der Befragten mit Verlusten, waren neben Selbstständigen vor allem prekär Beschäftigte wie Leiharbeiter und Minijobber betroffen. Stärker verbreitet waren Einkommensverluste auch bei Menschen mit Migrationshintergrund und Familien
mit Kindern.
Als wichtigen Grund für spürbare Einkommenseinbußen nennt das WSI neben dem Verlust von Umsätzen bei Selbstständigen oder dem Verlust des Arbeitsplatzes Kurzarbeit. Diese sichert in der Krise zwar zahlreiche Jobs, kann aber empfindliche Einbußen mit sich bringen. Wie frühere Studien des WSI zeigen, sind Beschäftigte mit Niedrigeinkommen davon häufiger betroffen. „Gleichzeitig zeigt der detaillierte Blick auf die Daten, dass auch in dieser schweren Krise sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Normalarbeitsverhältnis in Kombination mit Tarifbindung und betrieblicher Mitbestimmung Einkommensverluste verhindern oder zumindest begrenzen kann“, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch. Das unterstrichen weitere Daten aus der Erwerbspersonenbefragung: So erhielten im Fall von Kurzarbeit im Durchschnitt 58 Prozent der Beschäftigten, die nach einem Tarifvertrag bezahlt wurden, eine Aufstockung. In Unternehmen ohne Tarifbindung waren es hingegen lediglich 34 Prozent. Ähnlich groß fiel der Vorsprung in Betrieben mit Betriebs- oder Personalrat aus. Menschen mit Niedrigeinkommen arbeiten seltener in tarifgebundenen, mitbestimmten Betrieben, sie haben also eine geringere Chance auf Aufstockungen. Nur mit dem gesetzlichen Kurzarbeitergeld landen Niedrigverdienende schnell unterhalb des Existenzminimums.
Maßnahmen gegen wachsende Ungleichheit
Dass die Ungleichheit 2020 deutlich steigt, ist aus Sicht der Wissenschaftlerinnen auch deshalb wahrscheinlich, weil sich die Vermögen, die noch weitaus ungleicher verteilt sind als die Einkommen, in der Krise bislang als stabil erwiesen haben. Um dem Auseinanderdriften von Arm und Reich etwas entgegenzusetzen, empfehlen Kohlrausch, Zucco und Hövermann mehrere kurz- und langfristig wirkende Maßnahmen. Dazu zählen kurzfristig:
- Anhebung des Kurzarbeitergeldes, insbesondere für Beschäftigte mit Niedrigeinkommen,
- Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für den gesamten Zeitraum der Krise,
- dauerhafte Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes auf ein „armutsfestes“ Niveau,
- mehr Qualifizierungsmöglichkeiten während der Kurzarbeit – dazu muss das Qualifizierungschancengesetz gestärkt werden.
Weitere notwendige Maßnahmen sind:
- Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf 60 Prozent des mittleren Lohns von Vollzeitbeschäftigten,
- Stärkung der Tarifbindung, unter anderem durch eine gesetzliche Tariftreueklausel als Voraussetzung für öffentliche Aufträge,
- bessere Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse von Menschen mit Migrationshintergrund und mehr Qualifizierung,
- Rückkehr zu einer progressiven Besteuerung von Kapitalerträgen und stärkere Besteuerung sehr hoher Erbschaften, um eine weitere Konzentration von Vermögen zu begrenzen.
Bettina Kohlrausch, Aline Zucco, Andreas Hövermann: Verteilungsbericht 2020 – Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt (pdf), WSI-Report Nr. 62, November 2020