zurück
HBS Böckler Impuls

Sozialpolitik: Transatlantischer Sozialabbau

Ausgabe 16/2014

Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist amerikanischer geworden. Anders als in den USA gibt es allerdings nach wie vor den Rechtsanspruch auf ein staatlich garantiertes Existenzminimum.

Was den Sozialstaat angeht, bestehen nach gängiger Auffassung fundamentale Unterschiede zwischen Deutschland und den USA: In der einschlägigen Literatur stehe Deutschland stellvertretend für den Typ des konservativen Wohlfahrtsregimes, die Vereinigten Staaten hingegen verkörperten das liberale Modell, schreibt Martin Seeleib-Kaiser in den WSI-Mitteilungen. Demnach vertrauen die Deutschen auf das Konzept der Sozialversicherung zur Statussicherung, die Amerikaner setzen dagegen auf private Vorsorge sowie auf bedürftigkeitsabhängige staatliche Maßnahmen. Der Politikwissenschaftler von der Universität Oxford hat untersucht, inwieweit die reale Entwicklung dies widerspiegelt. Seiner Analyse zufolge „lässt sich ein Konvergenzprozess zwischen dem konservativen deutschen und dem liberalen amerikanischen Modell feststellen“ – sprich: die beiden Systeme nähern sich einander an. Ein Unterschied bleibe allerdings bestehen: Mittellose im Erwerbsalter erhielten in den Vereinigten Staaten faktisch keine staatliche Unterstützung und würden systematisch kriminalisiert.

Seeleib-Kaiser unterscheidet in seinem historischen Überblick zwei Phasen. Bis Mitte der 1970er-Jahre – zu Zeiten des „industriellen Wohlfahrtskapitalismus“ – seien Sozialleistungen auf beiden Seiten des Atlantiks ausgebaut worden, in den USA vor allem in Form betrieblicher Zuwendungen. Zuzüglich der staatlichen Leistungen hätten amerikanische Arbeitnehmer in Schlüsselindustrien ein Niveau der sozialen Sicherung erreicht, das dem in Europa ungefähr entsprach. Bei gleichzeitig stabilem Wirtschaftswachstum ging die offizielle Armutsquote zwischen 1960 und 1975 von 22 auf 12 Prozent zurück. In Deutschland hätten zu dieser Zeit sowohl die Rente als auch die Arbeitslosenversicherung dem Prinzip der Lebensstandardsicherung entsprochen. Die Netto-Lohnersatzrente für Eckrentner, die 45 Jahre Beiträge bezahlt und durchschnittlich verdient haben, betrug 70 Prozent, etwa zwei Drittel der Arbeitslosen hatten Anspruch auf Leistungen in Höhe von 68 Prozent des letzten Gehalts.

Nach dem „Goldenen Zeitalter“ habe die Deindustrialisierung in beiden Ländern die Arrangements zur sozialen Sicherung untergraben, stellt der Autor fest. So sank die Reichweite der betrieblichen Altersversorgung in den USA zwischen 1979 und 2010 von 50,6 auf 42,4 Prozent. Zudem hätten sich die Modalitäten der Programme größtenteils geändert: Den meisten Beschäftigten würden nicht mehr bestimmte Auszahlungsbeträge garantiert, die Rentenhöhe hänge vom Kapitalmarkt ab. Zugleich sei es zu Kürzungen bei den staatlichen Sozialleistungen gekommen, vor allem bei den Zuwendungen für Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose.

Noch tiefgreifender waren nach Seeleib-Kaisers Einschätzung allerdings die Änderungen am deutschen Modell. Da künftige Rentner nur noch mit einer Netto-Lohnersatzrate von 52 Prozent rechnen könnten und betriebliche Vorsorge in vielen Branchen wenig verbreitet sei, stehe ein Anstieg der Altersarmut zu erwarten. Infolge der Hartz-Reformen bezögen nur noch 40 Prozent der Erwerbslosen einkommensbezogene Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Von 13,6 Prozent auf über 20 Prozent habe in Deutschland zwischen 1996 und 2010 die Niedriglohnbeschäftigung zugenommen, die in den USA im gleichen Zeitraum stabil bei 25 Prozent lag. Insofern sei eine Annäherung an das amerikanische System deutlich erkennbar.

In einer Hinsicht unterschieden sich die beiden Länder allerdings nach wie vor grundsätzlich, urteilt Seeleib-Kaiser: Der deutsche Staat sei per Grundgesetz verpflichtet, das Existenzminimum aller Bedürftigen zu gewährleisten. Die USA dagegen hätten kein bedingungsloses bundesweites Sozialhilfeprogramm, die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen ohne Kinder habe keinerlei Zugang zu Transferzahlungen, sondern bekomme allenfalls Lebensmittelmarken. Die Folge: Über 10 Prozent der Amerikaner leben in extremer Armut, müssen mit weniger als 40 Prozent des mittleren Einkommens auskommen. In Deutschland trifft das auf etwa 4 Prozent zu. Darüber hinaus verfolge der amerikanische Staat eine Politik der „Kriminalisierung von Outsidern“: Zuletzt waren in den USA von 100.000 Einwohnern 743 inhaftiert, in Deutschland waren es 85. Die soziodemografischen Merkmale der amerikanischen Gefängnisinsassen ähnelten denen der europäischen Langzeitarbeitslosen. Für viele sozialpolitische Outsider, so der Politologe, hat sich der amerikanische Wohlfahrtsstaat „in einen Strafstaat verwandelt“.

  • Beim Niederiglohnsektor nähert sich Deutschland den USA an.Beim Niederiglohnsektor nähert sich Deutschland den USA an.Beim Niederiglohnsektor nähert sich Deutschland den USA an. Zur Grafik
  • Der amerikanische Staat kriminalisiert Outsider. Zur Grafik

Martin Seeleib-Kaiser: Wohlfahrtssysteme in Europa und den USA: Annäherung des konservativen deutschen Modells an das amerikanische?, in: WSI-Mitteilungen 4/2014

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen