Quelle: Gerngross / Glowinski
Service aktuellBöckler Konferenz für Aufsichtsräte 2023: „Wir sind alle Lernende“
Rund 250 Aufsichtsrät*innen, Gewerkschafter*innen und Expert*innen der Hans-Böckler-Stiftung trafen sich Mitte Juni in Berlin zur Böckler Konferenz für Aufsichtsräte 2023. Sie alle drängte ein Thema, das gleichsam täglich an Brisanz zunimmt: Wie sieht die Infrastruktur für eine sozial-ökologische Transformation aus, und wie kommen wir dorthin? Eingeladen hatte die HBS mit dem DGB.
[23.06.2023]
Von Jeannette Goddar
Es fehlte nicht viel, und die Ironie der Geschichte hätte die Böckler Konferenz der Aufsichtsräte mächtig durcheinandergewirbelt. Denn so gern die 250 Anwesenden und 80 digital Teilnehmenden vom Bundeswirtschaftsminister seine großen Linien einer sozial-ökologischen Transformation hören wollten, so unklar war bis kurz vor Schluss, ob er kommt. Robert Habeck hing wegen genau einer solchen Linie nebst Bundeskanzler und Finanzminister bei den Spitzen der Ampelfraktion fest. Sein bislang schwierigstes transformatives Projekt, das Gebäudeenergiegesetz, stand haarscharf vor dem Scheitern.
Doch dann, kaum 25 Minuten über der Zeit, kam er, und meldete auf Einladung von HBS und DGB Vollzug – noch bevor die Fraktionsspitzen vor die Presse traten. „Wir mussten noch ein bisschen arbeiten“, erklärte er in bestem Habeckschen Understatement, „das Gesetz wird morgen oder übermorgen den Bundestag erreichen.“ Ein Applaus, ein Lächeln, dann spannte er dem Anschein nach ungerührt – wie diese Spitzenpolitiker so schnell umschalten können, ist schon ein bisschen beeindruckend – einen Bogen von der Energiepolitik bis zur Mitbestimmung.
Anschließend an die Rede, die er beim IMK-Forum im Mai gehalten hatte, präzisierte Robert Habeck sein Konzept einer „transformativen Angebotspolitik“. Um die Herausforderungen zu bewältigen, brauche es einen aktiven Staat, inklusive des beschlossenen Klima- und Transformationsfonds und der noch nicht beschlossenen Strompreisbremse für energieintensive Unternehmen. „Yasmin Fahimi kämpft wie eine Löwin, und ich auch“, sagte er mit Blick auf die neben ihm sitzende DGB-Chefin. Die sekundierte, sie fände es „hervorragend“, dass Habeck den Industriestrompreis an Investitionen, Standort- und Tariftreue koppeln wolle.
Unterstützung für Unternehmen an Gegenleistungen koppeln
Da war viel Einigkeit zwischen einem Wirtschaftsminister, der das Soziale in der Marktwirtschaft betonte („Mitbestimmung macht Unternehmen stärker“), und einer DGB-Vorsitzenden, die sagte: „Die Erzählung der Grünen von ökologischer Erneuerung macht wirtschaftlich Sinn“. Dennoch warnte Fahimi vor einer „grün angestrichenen, reinen Marktwirtschaft“. Wenn ein Windkraftunternehmen wie Vestas Verhandlungen mit der IG Metall verweigere, sei das kein „Firlefanz“. Wenn Intel ohne Auflagen zur nachhaltigen Standortentwicklung viele Milliarden Euro an staatlicher Unterstützung für ein Werk in Magdeburg bekomme, drohe den Ostdeutschen womöglich erneut ein schnelles Ende blühender Landschaften.
Dass es nicht allerorten gleich gut gelingt, auf gute Arbeit zu drängen, musste Habeck da zugestehen – um im nächsten Moment ungefragt zum Mikrofon zu greifen, als es um die Bedeutung von Gewerkschaften ging. „Herausragend“ sei diese, erklärte Habeck: Gewerkschaften ließen Menschen nicht allein, lebten Solidarität, und hielten stets eine „glasklare Scheidewand zwischen berechtigtem Protest und trotzigem Populismus“ ein. Das täten sie indes nicht aus Nächstenliebe, kommentierte Fahimi, – sondern mit „Macht- und Gestaltungsanspruch“. Dann brach auch die DGB-Chefin eine „Lanze für die parlamentarische Demokratie“. Spätestens an diesem Punkt wurde überdeutlich, worum es in diesen Zeiten immer auch geht: Die sozial-ökologische Transformation braucht jeden einzelnen Demokraten und jede einzelne Demokratin.
Und dazu braucht es Räume, in denen der massive Wandel demokratisch gestaltet wird. „Die Transformation kann nur gelingen, wenn wir die Mitbestimmung stärken und gute Arbeit sicherstellen“, hatte HBS-Geschäftsführerin Claudia Bogedan gleich zum Auftakt der Konferenz erklärt – und auch deutlich gemacht, dass das allen nützt: „Demokratische, mitbestimmte Unternehmen arbeiten erfolgreicher. Das zeigt unsere Forschung seit Jahren.“
Die empirische Forschung liefere immer häufiger Belege dafür, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite Vorteile bringt, bestätigte Simon Jäger. Der CEO des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn stellte eine Untersuchung vor, laut der Firmen mehr investieren, wenn Beschäftigte im Aufsichtsrat mitreden: „Die These vom Klotz am Bein stimmt nicht“. Jäger, der lange in Boston forschte, berichtete, selbst in den notorisch marktliberalen USA blicke man auf das deutsche Modell: „Workers on Corporate Boards. Germany´s had them for years“ titelte die New York Times neulich.
Wie umgehen mit Industriepolitik à la USA und China?
Die Blicke über den Atlantik sind durchaus wechselseitig. Seit die Biden-Regierung im zurückliegenden Jahr mit dem Inflation Reduction Act ein 370-Milliarden-Dollar-Subventionsprogramm vorstellte, schauen europäische Ökonom*innen verstärkt in die USA; mit Interesse, nicht ohne Bewunderung, zugleich mit Skepsis und Sorge. „Angesichts der aggressiven Standortpolitik, welche die USA und China betreiben, kann Europa sich nicht heraushalten“, erklärte der Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der HBS, Sebastian Dullien.
Der „industriepolitische Paradigmenwechsel, hin zu einem aktiveren Staat“, den Deutschland seit der Pandemie erlebe, sei gleich aus zwei Gründen richtig und wichtig: Zum einen, um außenpolitische Abhängigkeiten zu verhindern; zum anderen seien die „ehrgeizigen Dekarbonisierungsziele“ ohne Technologieförderung unerreichbar. Der IMK-Direktor plädierte für ein Zusammenspiel horizontaler und vertikaler Industriepolitik: also für die Förderung von Regionen und Standorten wie für die von Branchen, Technologien, Unternehmen. Wichtig dabei: Neues, nicht altes fördern; mutig vorangehen; den Wettbewerbsdruck aufrechthalten. „Die Unternehmen müssen auch liefern, und die Arbeitnehmerrechte hochhalten,“ forderte Dullien. Für einen gesunden Wettbewerb wären europäische Programme am besten.
Nicht einstimmen in ein Hohelied auf eine neue Industriepolitik mochte BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner: Hätte Deutschland denn in der horizontalen Standortpolitik – Stichworte digitale Infrastruktur, Hochschulbildung, Ausbildung – seine Aufgaben gemacht?, fragte sie, eher rhetorisch: „Wenn wir da nicht gut sind, bin ich nicht überzeugt, dass wir in der vertikalen Förderung richtig sind.“ „Dauersubventionen“ gelte es zu vermeiden. Gleichwohl zeigte sich Gönner nachdenklich mit Blick auf die Herausforderungen aus China und den USA, auf die Deutschland und Europa natürlich reagieren müssten. Für den maroden Zustand der landesweiten Infrastruktur hatte Dullien noch eine pointierte Erklärung parat. „Auf dem Altar der Schwarzen Null wurde sie über Jahrzehnte geopfert.“
Dringend nötig: Ein gesetzliches Update für die Mitbestimmung
Industriepolitik allein wird es also nicht richten – und soll es auch aus Sicht der Arbeitnehmer*innenseite gar nicht. Wie ein rechtliches Update der Unternehmensmitbestimmung aussehen könnte, stellten Daniel Hay und Sebastian Sick vom Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der HBS vor. Erst rechneten sie den Aufsichtsrät*innen vor, dass sie nicht der Regelfall sind. Auf rund 650 paritätisch mitbestimmte Unternehmen in Deutschland kommen mehr als 400, die Mitbestimmung legal vermeiden oder illegal ignorieren. Deutlich mehr als zwei Millionen Beschäftigte bleiben so ohne paritätische Vertretung.
Das ließe sich ändern, stellte I.M.U-Direktor Daniel Hay anhand von vier Konzepten vor: Durch eine Ausdehnung der Mitbestimmung auf ausländische Rechtsformen, ein Ende der Mitbestimmungsvermeidung beim Beschäftigtenzuwachs in SE-Gesellschaften, ein Schließen der Drittelbeteiligungslücke sowie Stärkung von gerichtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten bei Ignorierungsfällen. Die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickeln, das habe sich auch der Koalitionsvertrag vorgenommen, schloss Hay: „Die Vorschläge liegen auf dem Tisch.“
Am Beispiel Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und neue Arbeitsbedingungen wurde ganz konkret klar, wozu Unternehmensbestimmung gut ist. Den Ton setzte der Informatiker Tobias Krafft (TU Kaiserslautern). Warum müssen sich Aufsichtsräte einmischen? fragte er, und zeigte, wie Künstliche Intelligenz (KI) sich die Arbeitswelt immer noch vorstellt: Wer „CEO“ bei Google Bilder eingibt, blickt auf lauter weiße Männer – und zwei Frauen, darunter eine nicht-weiße. Personalauswahl-Programme spiegelten derlei diskriminierende Annahmen, erklärte Krafft. „KI ist wie Feuer. Man kann tolle Sachen damit machen, es kann aber auch viel schiefgehen.“
„Weil wir den Bias nicht rauskriegen, nutzen wir KI nicht zur Personalauswahl“, konstatierte Sylvia Borcherding, Arbeitsdirektorin der 50Hertz Transmission GmbH, die erneuerbare Energien ins Stromnetz integriert. Um geeignete Kandidat*innen via LinkedIn & Co. zu identifizieren, sei KI allerdings Usus. Und ansonsten auch für das tägliche Kerngeschäft ihres Unternehmens unerlässlich. „Mit herkömmlichen Mitteln können wir die Netzstabilität nicht mehr managen“, erklärte Borcherding, „so wichtig die Erneuerbaren sind, so volatil sind sie. Doch stets braucht es eine Netzfrequenz von 50 Hertz.“
Den Wandel für die Beschäftigten beschrieb sie als enorm; Mitarbeiter*innen, die einst auf Masten kletterten, flögen heute Drohnen oder läsen Daten aus. Auf die naheliegende Frage, ob wirklich dieselben Beschäftigten die neuen Aufgaben erledigen, sagte sie: „Ja, wenn man sich Zeit nimmt, kann man die übergroße Mehrheit mitnehmen.“ Mit einer einzelnen Schulung sei es indes nicht getan.
Dokumentation
Regeln für KI und Lieferketten
Das unterstrich auch Kerstin Marx. Die Vorsitzende des Konzernbetriebsrats (KBR) und Aufsichtsrätin der Deutschen Telekom hatte ebenfalls zahlreiche Beispiele parat, wie KI längst im Unternehmen eingesetzt wird, und wie Digitalisierung Arbeitsplätze verändert. KBR und Konzernführung haben kürzlich ein „Manifest“ vereinbart, das sicherstellen soll, dass die entlastenden Potenziale von KI genutzt werden, aber kein Druck auf Mitarbeitende entsteht und deren Daten geschützt sind. Wichtig und gut, betonte Marx, die Arbeitnehmer*innenseite wolle aber noch mehr: Sie dränge auf eine verpflichtende strategische, langfristige Personalplanung.
Weiterhin neu hinzugekommen im Aufgabenportfolio von Aufsichtsräten: zu überprüfen, ob das Unternehmen das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einhält, das dieses Jahr in Kraft trat und im nächsten noch einmal verschärft wird. Auch Aufsichtsräte hätten Verantwortung für die Beschäftigten entlang der Lieferkette, erklärte die stellvertretende ver.di-Bundesvorsitzende Christine Behle – „und Haftungspflichten, drohende Bußgelder inklusive“.
Lothar Rieth, der Leiter Nachhaltigkeit der EnBW AG und im Sustainable Finance Beirat der Bundesregierung, konstatierte: Sein Unternehmen habe seine Aufgaben gemacht – und in 15-monatiger Kleinarbeit 10.000 Lieferanten auf Einhaltung des Gesetzes verpflichtet. Da stelle sich schon die Frage, welche Aufgaben der Staat habe, und welche man den Unternehmen auferlegen könne: „Die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden.“ Wobei Rieth grundsätzlich dafür plädierte, dass Unternehmen Verantwortung auch international übernehmen: Der Austausch mit Gewerkschaften sei dabei wichtig und eine große Hilfe.
Auf Kritik, auch die Kontrolle des Lieferkettengesetzes sei noch völlig unklar, reagierte Florian Woitek vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mit einer Zahl: Er selbst sei im Dezember als „Kollege Nummer 19“ gestartet: „Jetzt sind wir schon 70“, sagte der Mann, der das mit der Lieferkettengesetzkontrolle befasste Referat leitet. Die Sorgfaltspflichten der Unternehmen, zu denen die Benennung eines Beauftragten sowie die Einrichtung eines Beschwerdemechanismus gehört, würden in den Fokus kommen, sicherte er zu. Bereits jetzt beobachte Woitek, dass Unternehmen ihre Lieferketten besser kennen als zuvor. Und, da sagte er etwas, was in diesen Zeiten für vieles gilt: „Wir sind alle Lernende“.