Quelle: Lars Hübner
Service aktuellFMM Conference: Wie kommen wir aus der Polykrise?
Seit 1996 lädt das maßgeblich vom IMK der Hans-Böckler-Stiftung organisierte Forum for Macroecenomics and Macroeconomic Policies (FMM) jährlich zum Treffen der makroökonomisch Forschenden. In Berlin nahmen vom 24. bis 26. Oktober mehr als 350 Wissenschaftler*innen Perspektiven in Zeiten der Polykrise in den Blick.
[04.11.2024]
Von Jeannette Goddar
Covid und Klimawandel, Kriege und Energiepreisschocks, Inflation, Ungleichheit und Spaltung: Seit bald fünf Jahren kommt die Welt aus dem Krisenmodus nicht heraus. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat den Begriff Polykrise geprägt, der mehr meint als eine Ansammlung von Krisen: Treten viele zugleich auf, entstehen Wechselwirkungen, sie verstärken sich gegenseitig.
Das Forum for Macroeconomics and Macroeconomic Policies (FMM) adoptierte Toozes Gedanken für seine diesjährige 28. Tagung, ihr Titel: „Progressive perspectives in times of polycrisis“. Und weil der Krisen so viele sind, widmete sich bereits die erste von drei Plenarveranstaltungen einem Strauß von Problemen, die für sich genommen schon genug Stoff geboten hätten. „Challenges for progressive policies: Global North-South divide, European vulnerabilities and increasing climate change effects“ – so lautete der Titel. Der Generaldirektor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) in Brüssel Andrew Watt, bis vor kurzem noch Forscher am IMK, moderierte die gut zweistündige Debatte so an: „So viele sich überschneidende Probleme haben sich angesammelt – wir wussten gar nicht, welche wir wählen sollten.“
Fortführung kolonialer Verhältnisse
Wer außer weltumspannenden Themen auch noch kontroverse Positionen erwartete, wurde nicht enttäuscht. Hansjörg Herr (Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin) startete angemessen provokativ in den frühen Abend. Dem globalen Norden attestierte er einen „imperialistischen Lebensstil“, der in mancher Hinsicht nicht nur eine Fortführung, sondern eine Zuspitzung kolonialer Verhältnisse darstelle. „Im Grunde leben wir immer noch mehr oder weniger in derselben Struktur wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Teils hat sich die Ausbeutung des Globalen Südens sogar verschärft.“ Zur Untermauerung führte er an, dass zwar der Anteil der Menschen, die weltweit in Armut leben, zurückgehe. In Sachen Bruttoinlandsprodukt aber hätten die sogenannten Niedriglohnländer so gut wie nicht aufgeholt. Zu den wenigen Ausnahmen gehörten Staaten, die sich nicht bedingungslos Marktmechanismen unterwürfen, China zum Beispiel. Mit Blick auf die „schockierende Empirie“ forderte Herr, die Globalisierung zurückzudrehen. Es brauche „Deglobalisierung“: mehr regionalen Handel, eine Kontrolle internationaler Finanzströme, die Einbeziehung ökologischer Kosten in die Warentransportkosten.
An dieser Stelle bewährte sich schon am ersten Abend das vielleicht größte Alleinstellungsmerkmal der FMM Konferenz. Denn sie bringt nicht nur bis zu 400 Forschende aus den Wirtschaftswissenschaften zusammen, die die Zusammenhänge der Welt aus verschiedenen makroökonomischen Denkschulen betrachten. Die Veranstaltung ist auch international besetzt; inklusive zahlreicher Teilnehmenden aus Südamerika, Subsahara-Afrika, dem arabischen Raum.
Nicht nur über Krisen debattieren
Jan Behringer, Referatsleiter für Makroökonomie der Einkommensverteilung am IMK, und neben Heike Joebges (HTW Berlin) Sprecher der Koordinierungsgruppe des FMM, sieht den Anspruch der Konferenz darin, nicht nur über Krisen zu debattieren. „Unser Ziel ist, Antworten zu geben“, so Behringer, „viele der Forscherinnen und Forscher sind in ihren Ländern beratend tätig“. Manche sind auch gleich selbst in der Politik: Mit Esther Dweck nahm in diesem Jahr eine Ministerin der brasilianischen Regierung teil, die zugleich promovierte Ökonomin ist und an der Föderalen Universität von Rio de Janeiro lehrte.
Bei der Plenardebatte am zweiten Tag berichtete Dweck – übrigens neben ihrem Doktorvater Giovanni Dosi aus Pisa sitzend –, wie Brasilien nach Jahren der Bolsonaro-Regierung um neue industriepolitische Ansätze ringt. Sie erzählte von dem ehemals industriestärksten Staat in Südamerika, der Ende der 1980er in eine Spirale aus Schuldenkrise, Liberalisierung und Privatisierung geriet. Es folgten Verarmung, teils sogar Verelendung – und vier Jahre unter dem ultrarechten, ultraneoliberalen Präsidenten Jair Bolsonaro.
Vor bald zwei Jahren kehrte der in seiner ersten Amtszeit zu Beginn des Jahrtausends von der weltweiten Linken gefeierte Lula da Silva auf den Präsidentenstuhl zurück. „Seither steht Entwicklung wieder auf der politischen Agenda“, konstatierte seine Ministerin. Es seien soziale Programme durchgeführt, Armut und Ernährungsunsicherheit reduziert sowie der Konsum angekurbelt worden. Als eine der größten Herausforderungen beschrieb die auch für öffentliche Beschaffung zuständige Ministerin, in Zeiten der nötigen sozial-ökologischen Transformation das „Mindset“ zu ändern: „Über Jahre galt die Devise: Je billiger, desto besser. Das muss sich ändern. Aber wie gelingt es?“ Klar auf der Pro-Seite verortete Dweck den Anteil grüner Energien in Brasilien: Dieser liege bei 86 Prozent der Stromproduktion.
Europa braucht Einigkeit
Wie sehr Europa bei der technologischen Bewältigung der Energiewende hinterherhinge, war immer wieder Thema. Mehrfach leuchteten Statistiken aus dem jüngst vorgelegten Draghi-Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit hinter den Referierenden an der Wand. Etwa bei Annamaria Simonazzi (Universität Rom), die angesichts des rasanten Aufstiegs Chinas und allen innereuropäischen „Asymmetrien“ zum Trotz dringend zu gemeinsamem europäischem Handeln riet: „Die Europäische Union braucht Einigkeit – für Kohäsion und für Wachstum.“ Doch auch ihr Argument „pro europäische Wettbewerbsfähigkeit“ wurde gegen den Strich gebürstet – und die italienische Wissenschaftlerin gefragt, ob in China nicht mehr Menschen von Wachstum profitieren würden als in der EU. Simonazzi: „Wir können unsere Bevölkerung nicht zurücklassen. Es braucht europaweit koordinierte makroökonomische und arbeitsmarktpolitische Ansätze.“
Peter Bofinger (Universität Würzburg), bis 2019 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, vertrat unter anderem mit Verweis auf die Draghi-Zahlen eine „Schumpeterian perspective on innovation, government debt and economic growth“. Aus Schumpeters „monetärer Analyse“ folge, dass kreditfinanzierte Innovationen bei der wirtschaftlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen. Bofinger trat für einen unternehmerischen, investierenden Staat als Motor für Zukunftsinvestitionen ein – anstatt bei der unter anderem von Finanzminister Christian Lindner verfochtenen neoklassischen Sicht auf zu vermeidende Staatsverschuldung stehenzubleiben.
In dieser Hinsicht bestand bei aller Vielfalt der Themen, Forschenden und Denkschulen unter den mehr als 350 Anwesenden Einigkeit: Geld ist nicht neutral, Unsicherheiten bleiben nicht ohne Folgen. Es brauche makroökonomische Ansätze, die auf Vollbeschäftigung, ökologisch nachhaltiges Wachstum, Preisstabilität, Verringerung der Ungleichheit und Beseitigung der Armut zielen. Einig war man sich auch: Zahlreiche Länder sind industriepolitisch nicht aktiv genug – aber viele weit aktiver als vor der Finanzkrise von 2008, erst recht seit der Covid-Pandemie. Angesichts des massiven industriepolitischen Engagements der Global Player USA und China allerdings hinken alle, insbesondere auch die EU, massiv hinterher.
Aufzuzählen, in wie vielen Facetten die Polykrise Anforderungen an die moderne Makroökonomie stellt, würde angesichts eines dreitägigen Forums mit 144 Präsentationen den Rahmen sprengen. Es ging um Steuer- und Geldpolitik, die sozial-ökologische Transformation, den Wandel in den Industrien, globale Wertschöpfungsketten und Wachstumsmodelle, Mindestlöhne, umwelt- und geschlechter-ökonomische Ansätze – und vieles mehr.
Dokumentation
Soziale Grenzen des Wachstums erreicht
Der letzte der drei Abende im Plenum stellte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Gleichstellung der Geschlechter sowie Forderungen nach kürzeren und flexibleren Arbeitszeiten ins Zentrum. Robert Frank (Cornell Universität), eine der Koryphäen der Makroökonomie und Mitbegründer der Verhaltensökonomik, startete unter dem Titel „Why inequality is inefficient“. Dabei verwies er auf Daten, laut denen trotz des Anstiegs von Wohlstand und Bruttoinlandsprodukt die Lebenszufriedenheit in den USA über Jahre zurückging. Zugleich könnten Menschen sich nicht daran erinnern, ob die Einführung höherer (Einkommens-)Steuern jemals ihr Leben verschlechtert hätte – schlicht, weil sie das nie erlebt hätten. Franks Argument: Anders als von diesen angenommen hätten Steuererhöhungen für wohlhabende Menschen gar keine negativen Folgen, weil sie relativ betrachtet in ihrer höheren Position blieben: „Schmerz fühlt man nur, wenn das Einkommen im Vergleich zu dem der anderen sinkt.“
Till van Treeck (Universität Duisburg-Essen) blickte zurück auf John Maynard Keynes‘ berühmte Prognose von 1930, in 100 Jahren sei die Produktivität in Höhen gewachsen, in denen 15 Stunden Arbeit pro Woche ausreichen würden. „Wovon“, konstatierte van Treeck, „wir meilenweit entfernt sind – obwohl Keynes Vorhersage der Produktivität doch zutraf.“ Eine zentrale Ursache sieht er in der Einkommensungleichheit. Wo diese groß sei, führten Statusvergleiche zu einem Rennen, in dem breite Schichten der jeweils höheren hinterher strampelten – und dafür viele Stunden arbeiteten. Den Wünschen entspreche das oft nicht.
Van Treeck legte Zahlen vor, laut denen in Deutschland in allen Einkommensgruppen viele Menschen gern weniger arbeiten würden. Und er machte darauf aufmerksam, dass die sozialen Grenzen des Wachstums erreicht seien. Kürzere Arbeitszeiten könnten eine Antwort auf viele Herausforderungen – von der nötigen Dekarbonisierung über die Geschlechtergerechtigkeit bis zu mehr Zufriedenheit – leisten. Und wie nähert man sich diesen nun an? Van Treeck nannte drei wichtige Punkte, die es brauche: mehr öffentliche Daseinsvorsorge, einen Abbau der Einkommensungleichheit – und mehr Tarifverträge.