Quelle: Elisabeth Rehwald
Service aktuellTagungsbericht der Promovierendentagung 2023: Vom Wandel zur Transformation
Transformation(en) – Zwischen Dauerzustand, gesellschaftlichem Wandel und Zeitenwenden? – Unter diesem Motto stand die diesjährige Wissenschaftliche Tagung der Promovierenden der Hans-Böckler-Stiftung.
von Jeannette Goddar
So sieht sie also aus, die Transformation. In Plagwitz zum Beispiel, ein Stadtteil im Westen Leipzig, durch den an einem sonnigen Aprilnachmittag die Promovierenden der Hans-Böckler-Stiftung und Nachwuchswissenschaftler der Begabtenförderwerke geführt werden. Vorbei an schick sanierten Gründerzeit-Villen geht es über einen Spazierweg an der Weißen Elster in ein Industrieviertel, in dem einst 16.000 Menschen arbeiteten und oft auch wohnten. Nicht nur Baumwolle wurde hier gesponnen; auch die Kriegsmaschinerie wurde von Plagwitz aus am Laufen gehalten.
Noch zu DDR-Zeiten begann der industrielle Abstieg; auch dass viele Menschen lieber in modernen Platten- denn in bröckelnden Altbauten lebten, förderte den Leerstand. Als nach der Wende nur noch halb so viele Menschen wie in den 1950er-Jahren in Plagwitz wohnten, zog die kreative Szene ein, Häuser wurden besetzt, Subkultur geschaffen. Heute gibt es alternative Biergärten, Kunstareale, Kulturzentren. Was es auch gibt, sind Graffiti gegen Großinvestoren, das erste große Hotel ist bereits im Bau. Bereits heute können sich viele derer, die hier die Industriekultur retteten, die angesagten Wohnungen in einstigen Spinnereien und Fabrikhallen nicht mehr leisten. „Die Transformation lässt sich hier doch gut ablesen“, sagt der Stadtführer zu den Promovierenden der Böckler-Stiftung, die den zweiten Tag ihrer Wissenschaftlichen Tagung mit der Plagwitz-Tour abschließen. Denn das diesjährige Tagungsthema lautet: Transformation(en).
Gesellschaftstransformationen gab es schon immer
Man würde ihm sofort folgen – wäre da nicht die Skepsis, die nur wenige Stunden zuvor Raj Kollmorgen, Professor für Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz, in seiner Keynote geschürt hatte. Transformation bedeute weder Modernisierung noch jede Form des Wandels, hatte er gesagt – auch wenn man sich im „wissenschaftlichen, publizistischen, wie literarischen Raum kaum bewegen kann, ohne über den Begriff zu stolpern“. Modebegriffe seien zwar „nichts Schlimmes“; dennoch appellierte der Soziologe an analytisch begreifendes Denken.
Für Kollmorgen braucht es mehr als „trendhafte, gegebenenfalls umkehrbare“ Veränderungsprozesse, um von einer Transformation zu sprechen; eine „holistische und radikale Dimension, welche die Grundkonstitutionen der Gesellschaft betrifft“. Als herausragendes Beispiel für Gesellschaftstransformationen nannte er die postsozialistischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, mit denen der Begriff auch so richtig an Fahrt aufnahm. Doch auch bei diesen ließe sich fragen, ob sie mit den Jahreszahlen 1989/90 richtig verortet seien: „Man könnte auch mit Solidarnosc 1980/81, Gorbatschow 1985, Ungarn 1987/88, oder sogar 1968 in Prag beginnen.“ Wie man den Anfang und das Ende datiere, habe Einfluss darauf, wie man Transformation blicke. Als Beispiele außerhalb Mittel- und Osteuropas 1989 nannte Kollmorgen etwa den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, die Meiji-Restauration in Japan nach 1868, die Russische Revolution sowie die Ablösung des Osmanischen Reichs in der Türkei 1923. Als Transition beschreibt der Soziologe eine Übergangsphase, in der das jeweilige Herrschaftssystem wechselt.
Die postsozialistische Ära
Kollmorgen empfiehlt, anlässlich der aktuellen sozial-ökologischen Transformation auf die postsozialistische Ära zurückzublicken, nach dem Motto: „Was ist ähnlich, was ganz anders?“ Seine Hinweise, was heute anders ist, machten indes nicht viel Mut. Heute gehe es um die Lebensgrundlagen selbst – „also ob uns die Erde um Ohren fliegt“ – gegenüber der Frage „Wie wollen wir leben?“, die 1989 im Zentrum stand. Zweitens attestierte er eine nie gekannte Wissenschaftlichkeit, was etwa die Kipppunkte im Erdklima betreffe. Drittens sei weltweit ein „Habitusbruch“ notwendig, der nicht verordnet werden kann, „auch dann nicht, wenn die Zeit wegrennt“. „All das verändert die Grundlagen politischen Handelns dramatisch“, erklärte Kollmorgen.
Die Wissenschaftliche Tagung der Promovierenden findet jedes Jahr zu einem anderen Thema statt. „Ob Privatheit 2.0, Privatisierung, oder eben Transformation – auch für uns ist wichtig, nah an den Themen der Doktorandinnen und Doktoranden zu bleiben“, erklärt Jens Becker, Referatsleiter der Promotionsförderung. Der Historiker Jonas Jung sagt: „Wir alle forschen zu Themen in postsozialistischen Ländern. Zugleich stellten wir fest, dass das Thema Transformation ganz verschieden verstanden wird.“ Daher schrieben sie Fragen nach der Beschaffenheit von Transformationen“ ins Programm, um sich einem „ubiquitären Begriff“ zu nähern.
Die Tagung machte indes auch deutlich, wie breit das Feld der Forschung zu postsozialistischen Ländern ist. Vorgestellt wurden Promotionen, die dem Bildungssystem der DDR nachspüren, und solche, die sich mit der ostdeutschen Fußball-Fankultur, oder dem Schwangerschaftsabbruch in der DDR und in Polen befassen. Auch das Thema Geschlechterpolitik sowie rechte Bewegungen als (Post-)transformationsphänomen in Polen werden bearbeitet. Zu letzteren forscht die Politikwissenschaftlerin Rebekka Pflug, die eine weiterhin bestehende Kluft zwischen West und Ost konstatierte: Die in Deutschland zuletzt stark ausgebaute Bewegungsforschung sei mit Zivilgesellschaften in Mittel- und Osteuropa so gut wie nicht befasst. „Auch zwischen Forschungseinrichtungen in Ost und West gibt es immer noch wenig Kommunikation,“ so Pflug.
Transformation durch Arbeitskampf
Interessantes zum Thema Arbeitswelten am Beispiel des zu Ende gehenden Kohlebergbaus in der Lausitz stellte der Rechtswissenschaftler Arnold Arpaci vor. Unter dem Titel „Transformation durch Arbeitskampf“ warf er die Frage auf, ob ein Streik für mehr Nachhaltigkeit rechtmäßig ist – eine Frage, die sich auch im März stellte, als Verdi und Fridays For Future mit einem Aktionstag für bessere Arbeitsbedingungen im und eine Stärkung des ÖPNV antraten. In einem Bereich, in dem die Arbeitgeber mit Macht agierten, sei ein Streikrecht für nachhaltige Entwicklungen eine Minderheitenmeinung, erklärte Arpaci. „Wie kommen wir da weiter? Wenn sich durchsetzt, dass es dieses Recht gibt, sind neue Allianzen möglich – und auch die Klimabewegung könnte neuen Drive bekommen.“
Die Literaturwissenschaftlerin Annika Jahns blickt in Arbeitswelten der DDR zurück: in einen Zirkel Schreibender Arbeiter, wie es sie in vielen Betrieben gab. Am Beispiel einer Fallstudie des VEB Carl Zeiss Jena stellte sie Texte vor, die noch einmal präsent werden ließen, als wie machtlos sich viele Menschen in der Zeit der Transition von der DDR zur BRD fühlten. In einem Gedicht von Damaris Kaufmann aus dem Jahr 1990 heißt es zum Beispiel: „Verweste Tage, Geatmet. Gegessen. Geschlafen. Ich lasse mich geschehen."