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Veranstaltungsbericht "75 Jahre Tarifvertragsgesetz": Tarifverträge: staatsentlastend und friedensstiftend

Vor 75 Jahren trat das Tarifvertragsgesetz in Kraft. Auf der Geburtstagsfeier in Berlin blickte man auf seine Stärken, aber auch auf die sinkende Tarifbindung, und was sich daran ändern lässt.

[30.04.2024]

Von Gunnar Hinck

Das Tarifvertragsgesetz ist nicht nur die Basis für eine faire Lohngestaltung in Deutschland, sondern es wirkt auch demokratiestabilisierend - in diesem Befund waren sich die Diskutantinnen und Diskutanten auf der Festveranstaltung zum 75-jährigen Geburtstag des Gesetzes weitgehend einig. Auf der von der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem DGB ausgerichteten Jubiläumsfeier würdigten zahlreiche Menschen aus Politik und Gewerkschaften, Arbeitsgeberverband und Wissenschaft die Bedeutung des Gesetzes, das noch vor der Gründung der Bundesrepublik - zunächst nur in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone - in Kraft trat.

Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Böckler-Stiftung, warf einen Blick in die Geschichte und erklärte: "Das Gesetz nivelliert das Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital.“ Der zweite zentrale Punkt: Das Gesetz hält den Staat aus Arbeitskonflikten heraus, das war eine Lehre aus der Weimarer Republik. Zu Weimarer Zeiten hatte der Staat die Schlichtungsrolle inne; Arbeitskonflikte wurden unnötig politisiert.

Kohlrausch erinnerte nebenbei an einen heutzutage meist vergessenen Aspekt: Die ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen wurde in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik auch durch Tarifverträge institutionalisiert, indem Frauen in so genannte „Leichtlohngruppen“ eingruppiert wurden; erst Gerichtsurteile hoben diesen Missstand auf.

Fundament der Tarifautonomie

SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sprach vom Tarifvertragsgesetz als dem „Fundament der Tarifautonomie“ - und betonte ebenfalls die staatsentlastende Funktion gerade mit Blick auf Krisenzeiten: Die steuerfreien Einmalzahlungen, die der Staat nach Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine ermöglichte, hätten die Tarifparteien in verschiedenen Branchen beherzt genutzt - mit Vorbildcharakter für nicht tarifgebundene Betriebe.

Auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger betonte die friedensstiftende Wirkung von Tarifverträgen in den Betrieben. Er sprach aber einen Punkt an, der während der Veranstaltung immer wieder auftauchte: Die Tarifbindung erodiert schleichend. Derzeit arbeiten nur noch rund 50 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben. Unternehmen ohne Tarifbindung, so der Arbeitgeberpräsident, pickten sich Bestandteile aus Tarifverträgen heraus und meinten, dass es ja auch so gehe. „Auf diese Entwicklung bin ich nicht stolz", sagte Dulger.

Für ihn, so Dulger, sei die Frage zentral, wie man Tarifverträge wieder attraktiver machen könne - und mahnte bei der Gelegenheit an, dass Tarifverträge überschaubar sein müssten. Auch selbstkritisch fragte er in die Diskussionsrunde, an der auch die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi teilnahm, warum sowohl die Arbeitgeberverbände als auch Gewerkschaften nicht mehr Tarifverträge organisiert bekämen.

Arbeitgeber bleiben skeptisch

Die DGB-Chefin antwortete auf den gewerkschaftlichen Teil der Frage mit den vielfach prekären Arbeitsbedingungen gerade im Bereich der neuen Dienstleistungen: „20 bis 25 Prozent der Beschäftigten arbeiten, um es diplomatisch auszudrücken, in angespannten Verhältnissen. Da herrschen starke Abhängigkeiten. Wer etwa bei Lieferando mit Flüchtlingsgeschichte arbeitet, ist nicht leicht für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu überzeugen, weil sein Aufenthaltstitel am Arbeitsvertrag hängt. Der fürchtet negative Konsequenzen." Und: „Wir müssen in einem Betrieb Hunderte Leute überzeugen, sie nur den Arbeitgeber", sagte sie an Dulger gerichtet. Die DGB-Chefin betonte die wichtige Rolle des Organizing, um als Gewerkschaft in diesen Branchen mehr Einfluss zu bekommen. Unter dem Motto „Tarifwende“ haben DGB und Mitgliedsgewerkschaften das Thema bereits ganz oben auf der Agenda.

Hubertus Heil versprach, das Tariftreuegesetz auf Bundesebene - öffentliche Aufträge dürfen dann nur an Unternehmen vergeben werden, die ein Tarifgehalt zahlen - noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg zu bringen: „Ich bin sicher, dass wir das miteinander hinbekommen.“ Ob der Koalitionspartner FDP das im Koalitionsvertrag vereinbarte Projekt mitträgt, bleibt abzuwarten, auch Rainer Dulger wiederholte die skeptische Haltung des Arbeitgeberverbandes.

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