150 Jahre Sinzheimer : Sinzheimer hat das Arbeitsrecht mit einer humanistischen Grundhaltung versehen
Anlässlich des 150. Geburtstags von Hugo Sinzheimer hatte das nach ihm benannte Institut der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit der IG Metall nach Frankfurt am Main eingeladen. Ein Jubiläum mit sehr viel Aktualität.
[23.04.2025]
Von Fabienne Melzer
Eine Frage zog sich wie ein roter Faden durch diesen Tag: „Was hätte Hugo Sinzheimer dazu gesagt?“ Ob es wie bei Christiane Benner, der Ersten Vorsitzenden der IG Metall, um die Beziehung von Sinzheimer zu den Gewerkschaften ging, bei Daniel Ulber, Rechtswissenschaftler der Universität Trier, um aktuelle Entscheidungen im Arbeitsrecht, oder bei den internationalen Gästen um die Herausforderungen für Gewerkschaften in ihren Ländern, immer wieder kamen die Redner*innen auf dieses Gedankenspiel.
Das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung hatte gemeinsam mit der IG Metall anlässlich des 150. Geburtstags von Hugo Sinzheimer nach Frankfurt eingeladen. Zu den Gästen zählten nicht nur zahlreiche Jurist*innen wie die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, und der Richter am Bundesverfassungsgericht, Martin Eifert. Auch Nachkommen von Hugo Sinzheimer waren aus den Niederlanden und den USA zur Jubiläumsveranstaltung nach Frankfurt gekommen, wo der Jurist über Jahrzehnte lebte und arbeitete, bis zu seiner Flucht 1933.
Tarifautonomie ohne Sinzheimer nicht denkbar
Was für Beschäftigte und Gewerkschaften heute selbstverständlich ist, wäre ohne die Arbeit Hugo Sinzheimers nicht denkbar. Die Tarifautonomie und das Recht auf Koalitionsfreiheit gehen auf ihn zurück. Der Jurist arbeitete an der Weimarer Verfassung mit und seine Formulierungen flossen später ins Grundgesetz der Bundesrepublik ein.
Wie grundlegend seine Gedanken schon vor über 100 Jahren waren, zeigte der Tag in Frankfurt. Besonders Daniel Ulber, der am Institut für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen der Europäischen Union an der Universität Trier forscht, unterzog immer wieder aktuelle Urteile dem Blick Hugo Sinzheimers, etwa die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, der Gewerkschaft IGBCE den digitalen Zugang zu den Beschäftigten von Adidas zu verweigern.
Sinzheimer sah, dass die Grundannahme des Privatrechts, das von der Gleichheit der Vertragsparteien ausgeht, für das Arbeitsrecht nicht passt. Daher sollte das Arbeitsrecht ein Arbeitnehmerschutzrecht sein. Da technischer und ökonomischer Wandel immer Folgen für die Beschäftigten haben, kann ein statisches Arbeitsrecht diesen Schutz nicht gewährleisten. „Sinzheimer mahnt uns, immer wieder nach aktuellen Lösungen für das Arbeitsrecht zu suchen“, sagte Ulber.
Auch das Problem der Tarifflucht hat Sinzheimer beschrieben. Die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags schützt zwar den Einzelnen vor schlechteren Vereinbarungen im individuellen Arbeitsvertrag. Doch nur dort, wo der Tarifvertrag gilt. „Es gibt mittlerweile viele schwarze Löcher in der Tariflandschaft“, sagte Ulber. „Damit Tarifautonomie aber funktioniert, muss sie über den Kreis der Mitglieder hinauswirken“, sagte Ulber.
„Die Geschichte Sinzheimers in den Blick nehmen“
Im Vorfeld des Jubiläums gelang es der IG Metall, den Nachlass Hugo Sinzheimers zu übernehmen. Er wurde inzwischen vom Archiv der sozialen Demokratie in Bonn digitalisiert und ist online zugänglich. Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des HSI, erhofft sich aus diesen Dokumenten auch neue fachliche Erkenntnisse. „Wenn wir verstehen wollen, warum unser Recht so ist, wie es ist, müssen wir die Geschichte Sinzheimers in den Blick nehmen“, sagte Klengel. „Sinzheimer hat das moderne Arbeitsrecht nicht nur begründet. Er hat es auch mit einer humanistischen Grundhaltung versehen.“
Ein Erinnern an Hugo Sinzheimer verbindet sich immer auch mit der Erinnerung an die Gräuel der Nazi-Herrschaft. Als Jude, Sozialdemokrat und wegen seiner Nähe zu den Gewerkschaften musste Sinzheimer bereits 1933 aus Deutschland fliehen. Zunächst arbeitete er an der Universität in Amsterdam, musste aber nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland untertauchen und versteckte sich mit seiner Frau und einer Tochter immer wieder an anderen Orten in den Niederlanden.
Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans Böckler Stiftung, erinnerte angesichts einer erstarkenden Rechten in Deutschland daran, dass Sinzheimer auch Verfechter der Demokratie und der Rechte von Gewerkschaften war: „Der Hass dieser Ideologie gilt immer auch uns, uns Gewerkschafterinnen und Gerwerkschaftern, uns Demokratinnen und Demokraten.“ Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef betonte die Bedeutung der Arbeit Sinzheimers für die Demokratie, die derzeit zunehmend in die Defensive gerate: „Sinzheimer steht für ein Gesellschaftsmodell, das auf Teilhabe und Gerechtigkeit ausgerichtet ist, und das ist heute wichtiger denn je.“
Sinzheimers Tod war ein Verlust für Nachkriegsdeutschland
Auch die Erste Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, sieht es als Aufgabe der Gewerkschaften in der Erinnerung an die Verfolgung Sinzheimers, den Kampf gegen Antidemokraten und Antisemitismus aufzunehmen. „Indem wir Hugo Sinzheimers Ideen hochhalten, kämpfen wir um die Voraussetzungen für erfolgreiches gewerkschaftliches Handeln in der Zukunft. Indem wir die Erinnerung an seine Verfolgung als Jude wachhalten, leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung unserer Demokratie gegen die Feinde von ganz rechts“, so Benner. Die Tarifautonomie mit freien Gewerkschaften und ein demokratisches Gemeinwesen seien untrennbar, betonte die Gewerkschaftsvorsitzende. „Wo eine Komponente leidet, ist die andere bedroht.“ Ein doppeltes Problem also, wenn Tarifflucht von Arbeitgebern durch rechtliche Schwächen begünstigt wird. „Das widerspricht sicher dem, was Hugo Sinzheimer im Kopf hatte“, sagte Benner.
In der Geschichte gab es aber auch Erfolge, die im Sinne des Begründers des modernen Arbeitsrechts gewesen wären. So bedauerte Benner, dass Sinzheimer nicht mehr erleben durfte, wie durch einen langen Streik zum ersten Mal ein grundsätzliches Anliegen in den Tarifvertrag aufgenommen wurde: die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Denn Sinzheimer starb nur kurz nach der Befreiung der Niederlande von Nazi-Deutschland an den Folgen eines jahrelangen Lebens im Untergrund. „Sein Tod war ein Verlust für Nachkriegsdeutschland“, sagte Benner. Denn er hätte sicher viel zum Wiederaufbau des Tarifrechts nach dem Krieg beigetragen.
Großer Einfluss auf Arbeitsrecht in Großbritannien, Argentinien und Japan
Die Entwicklung des Arbeitsrechts war in Deutschland bis zur Diktatur der Nationalsozialisten von jüdischen Wissenschaftlern geprägt. Nicht nur Sinzheimer musste nach 1933 fliehen, auch viele seiner Schüler wie Otto Kahn-Freund oder Ernst Fraenkel verließen Deutschland. Während damit in Deutschland ein wichtiger Teil der Rechtskultur verloren ging, brachten sie die Ideen Sinzheimers in die ganze Welt. Wie sehr seine Arbeit auch das Recht in Großbritannien, Argentinien und Japan beeinflusst hat, berichteten Ruth Dukes von der University of Glasgow, Kenji Takahashi von der Universität Tokio und Leticia Vita von der Universidad de Buenos Aires. In allen drei Ländern sind die Ideen Sinzheimers in das Arbeitsrecht eingeflossen, entweder durch die Arbeit eines Schülers wie Otto Kahn-Freund in Großbritannien oder durch Übersetzungen in Japan.
Die politische Dimension des Arbeitsrechts geht nach Ansicht Ruth Dukes in Großbritannien auf den Einfluss Sinzheimers zurück. In Argentinien sehen sich Gewerkschaften und Arbeitsrecht derzeit heftigen Angriffen ausgesetzt. „Daher sind die Ideen Hugo Sinzheimers gerade jetzt für uns relevant“, sagte Leticia Vita. Wie in Deutschland kämpft auch in Japan das Arbeitsrecht mit neuen Formen der Beschäftigung. Kenji Takahashi berichtete von Uber-eats-Fahrern, die eine Gewerkschaft gegründet hatten. Doch das Unternehmen weigerte sich, mit ihnen zu verhandeln. „Es ging um die Frage, ob es überhaupt Arbeitnehmer sind“, sagte Takahashi und fragte schließlich: „Was würde Hugo Sinzheimer zu Crowdworkern sagen?“