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Tagungsbericht: Menschengerechte Arbeit aus verschiedenen Blickwinkeln

Über die "Perspektiven menschengerechter Arbeit - gestern, heute und morgen" diskutierten Teilnehmende aus Wissenschaft, Gewerkschaften und betrieblicher Praxis Anfang Oktober in Berlin. Eingeladen hatte die Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bamberg.

[21.10.2024]

Von Gunnar Hinck

Perspektiven menschengerechter Arbeit können an sehr unterschiedlichen Stellen ansetzen. So ging es auf der zweitägigen Tagung unter anderem um Gesundheit am Arbeitsplatz, den Zusammenhang von Digitalisierung und Rationalisierung, und die Zukunft von Weiterbildung und Qualifizierung.

Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Böckler-Stiftung, der Historiker Knud Andresen, der SPD-Bundestagsabgeordnete Jan Dieren und UIrike Eggle, Personalratsvorsitzende beim Jugendamt Stuttgart, diskutierten in einer Runde über die Unterschiede zwischen Mitbestimmung und Partizipation. Jan Dieren nannte den Berliner Essenslieferanten "HelloFresh" als Beispiel dafür, wie besonders Startups versuchten, betriebliche Mitbestimmung zu verhindern, indem sie wohlklingende "Councils" einsetzen: „Wir müssen uns klar darüber sein, dass solche Partizipationsmodelle immer in der Hand des Unternehmens bleiben. Sie wissen, dass sie solche Formen anbieten müssen, um der Unzufriedenheit ein Ventil zu geben". Aber solche Councils, die nicht annähernd die Rechte eines Betriebsrats haben, verträten am Ende immer die Interessen des Unternehmens.

Öffentlicher Dienst als Treiber der Mitbestimmung

Ernesto Klengel machte gesetzlichen Reformbedarf aus: „Der Betrieb franst auch aufgrund der Digitalisierung und der Plattformökonomie aus. Er muss im Sinne der Mitbestimmung neu geregelt werden." Und: "Die Vereinzelung im Homeoffice erschwert Solidarität.“ Es bedürfe wirksamer Zugangsrechte für Betriebsräte und Gewerkschaften. Eine „Demokratiezeit" am Arbeitsplatz würde in unsicheren Zeiten Gelegenheiten für Solidarität im Betrieb schaffen.

Knud Andresen sprach von der Verrechtlichung der Mitbestimmung. So sind die Rechte im Lauf der vergangenen 75 Jahre schrittweise ausgebaut worden. Aus dem Publikum darauf angesprochen, dass Betriebsräte in Unternehmen nicht nur für die Rechte der Beschäftigten eintreten, sondern immer auch Hierarchien im Betrieb legitimierten, antwortete Andresen: „Betriebsräte sind immer auch Teil des Betriebes. Sie sind keine Rebellen, sondern Mitbestimmungsexperten." Ulrike Eggle berichtete aus der Personalratsarbeit über die vergleichsweise eingeschränkten Mitbestimmungsmöglichkeiten der Personalräte: „Wir können nur nein sagen.“

Jan Dieren schlug vor, gerade den Öffentlichen Dienst als Treiber für mehr Mitbestimmung zu nutzen: „In der Privatwirtschaft haben wir das Problem, dass mit der Mitbestimmung immer auch die Rechte der Kapitaleigner eingeschränkt werden, im Öffentlichen Dienst ist dies nicht der Fall." Seine Hoffnung: Wenn der Öffentliche Dienst hier voranschreitet, dürften die zusätzlichen Rechte später auch in der Privatwirtschaft verankert werden.

Spannender Schlusspunkt der Tagung war die Runde zum Thema Arbeitszeiten. Sophie Jänicke von der IG Metall Berlin-Brandenburg machte deutlich: „Arbeitszeiten sind oftmals zu lang, hochflexibel und aufgrund von Schichtarbeit ungesund." Ein Hebel dagegen ist, so die Tarif- und Arbeitszeitexpertin, „dem aktuellen Paradigma der Arbeitszeitverlängerung als Gewerkschaften eine Alternative entgegenzusetzen". Die Ampel-Regierung hatte im Sommer steuerliche Anreize für Überstunden angekündigt, was zu längeren Arbeitszeiten führen würde.

Polarisierung kann helfen

Die IG-Metall-Perspektive einer Vier-Tage-Woche wertete Jänicke als „Chiffre" für eine nötige weitere Arbeitszeitreduzierung. "Es ist ein langfristiges Ziel, aber ein Zwischenschritt kann zum Beispiel ein kurzer Freitag sein", sagte sie. Die 35-Stunden-Woche, für die vor 40 Jahren gestreikt wurde, sieht die Arbeitszeitexpertin sie weiter als gewerkschaftliches Ziel für alle Branchen. Aber innerhalb dieses kollektiven Rahmens müssten individuelle Arbeitszeitmodelle weiterentwickelt werden - auch mit Blick auf unterschiedliche Lebensphasen ("lebensphasenorientierte Arbeitszeiten"). Hier hatte die IG Metall schon 2016 mit ihrer Kampagne "Mein Leben - meine Zeit" die Weichen neu gestellt.

Yvonne Lott, Leiterin des Referats Geschlechterforschung bei der Hans-Böckler-Stiftung, beleuchtete die Ausbreitung von informellen, über den Tag gesplitteten Arbeitszeiten, die seit der Corona-Pandemie und der Durchsetzung von Homeoffice zu beobachten ist. „Das ist in erster Linie interessengeleitet von Arbeitgeberseite, weil die Beschäftigten so mehr arbeiten." Hier seien Regulierungen nötig, um die Interessen der Arbeitnehmer zu wahren. Über die genaue Ausgestaltung dieser "fragmentierten Arbeitzeitmodelle" brauche es noch mehr Forschung, weil das Phänomen noch neu ist.

Sophie Jänicke erinnerte in ihrem Schlussappell an die große Mobilisierungskraft der 35-Stunden-Kampagne, die ein Vorbild für heutige Auseinandersetzungen um das Thema Arbeitszeit sein kann: „Damals gab es einen klaren Gegnerbezug. Polarisierung kann helfen, gerade auch heutzutage."

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