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: Lehren aus der Fleischindustrie

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung analysierte über vier Jahre die Auswirkungen des 2021 in der Fleischindustrie eingeführten Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Die Ergebnisse wurden Ende März in Berlin vorgestellt.

Von Jeannette Goddar

[03.04.2025]

Als sich im Juni 2020 mehr als 1000 Beschäftigte eines Fleischbetriebs mit Corona infizierten, reagierte die Politik im Rekordtempo. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte: „Wir schützen die Beschäftigten und beenden die Verantwortungslosigkeit in Teilen der Fleischindustrie.“ Das Kabinett brachte innerhalb weniger Wochen das Arbeitsschutzkontrollgesetz auf den Weg, das Werkverträge in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung verbietet und Leiharbeit massiv einschränkt. Am 1. Januar 2021 trat es in Kraft. 

Auf der Abschlusskonferenz des WSI-Projekts „Neuordnung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen am Beispiel der Fleischindustrie“ in Berlin bezeichnete die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi das Arbeitsschutzkontrollgesetz als großen Erfolg. Sie forderte ein Direktanstellungsgebot auch für andere Branchen, insbesondere die Paketzustellung. 

Nun gelte es für weitere Branchen klarzustellen: „Was den Menschen dort passiert, geht zu Lasten aller in diesem Land.“ Es gehe nicht an, dass in Deutschland „mit mafiösen Strukturen unsere Gesetze und Regeln unterwandert werden“, um billiger zu produzieren. Auch den Arbeitgebern gelte es klarzumachen: „Es geht um euer Geschäftsmodell, ihr seid die, die am Ende kaputt gehen“. Der DGB will zudem die Subunternehmerketten gesetzlich auf zwei Glieder verkürzen, wobei bei branchenspezifischem Bedarf eine Verlängerung auf drei oder mehr Subunternehmen tarifvertraglich vereinbart werden könnte. Fahimi forderte einen Neustart für ein Bundestariftreuegesetz, das bereits im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien vorgesehen war: „Alles andere wäre ein Bekenntnis des Staates zu Lohndumping und nicht zu respektieren.“  

Ketten von Subunternehmen unterbrochen

Şerife Erol, wissenschaftliche Referentin des Projekts am WSI, und Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs, untersuchten vier Jahre lang die Auswirkungen des Arbeitsschutzkontrollgesetzes anhand von 14 Betriebsfalluntersuchungen. „Das Signal der Politik lautete: Wir haben es verstanden, es wird große Veränderungen geben. Wir wollten wissen, ob diese tatsächlich eingetreten sind“, erläuterte Şerife Erol zur Begrüßung der rund 80 Gäste aus Gewerkschaften, aber auch aus den Arbeitsministerien.  

Ein Ergebnis: Den langen Ketten von Sub- und Subsubunternehmern und der schlimmsten Ausbeutungsformen vor allem osteuropäischer Migrantinnen und Migranten in der Fleischindustrie konnte ein Ende bereitet werden. Thorsten Schulten erklärte, die bei Subunternehmen angestellten Werkvertragsbeschäftigten seien flächendeckend in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse übernommen worden: „Die organisierte Verantwortungslosigkeit hat ein Ende.“ Weitere positive Auswirkungen: Die Zahl der Arbeitsunfälle ging zurück, die Arbeitszeiten werden überwiegend eingehalten, die Wohnverhältnisse haben sich verbessert. Nicht gelungen ist hingegen, eine Tarifvertragsstruktur aufzubauen, die der schlechten Bezahlung ein Ende setzt: „Ein Branchenmindestlohn wurde durchgesetzt, aber schnell vom gesetzlichen Mindestlohn eingeholt,“ so Schulten. Das Ergebnis: Die Fleischindustrie bleibt ein Niedriglohnsektor – und die Fluktuation hoch.

Verbessert hat sich die Mitbestimmung. Die Betriebsräte wurden mit den Belegschaften größer und mehr Beschäftigte für die Interessenvertretung freigestellt. Ebenfalls positiv: „Das ASKG hat einen Rahmen geschaffen, in dem die Betriebsräte für alle Beschäftigten zuständig sind“ erklärte Şerife Erol. Auch seien – obgleich in der Minderheit – ehemalige Werkvertragsbeschäftigte in den Betriebsratsgremien vertreten. Von „zeitweise deutlichen Mitgliederzuwächsen“ unter den oft rumänischen Beschäftigten berichtete Thomas Bernhard, Wirtschaftsgruppenleiter Fleisch bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).  Entscheidend bleibe indes, „dass die Löhne endlich steigen.“ 

Auch ein Erfolg von faire Mobilität

Das verstärkte gewerkschaftliche Engagement ist auch ein Erfolg des DGB-Projekts Faire Mobilität, das seit 2011 Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa kostenlos und in den Landessprachen zu ihren Arbeitsrechten berät. Um in Kontakt zu kommen, bauen sie sich vor den Toren der Fleischunternehmen auf oder gehen in Kooperation mit der NGG in die Kantinen. „Selbst wenn die Zeit auf dem Weg zur Arbeit oder in der Pause kurz ist: Wir zeigen: Es gibt uns, wir stehen euch zur Seite,“ berichtete Anna Szot. Sie ist Branchenkoordinatorin bei Faire Mobilität für die Fleischindustrie und stellte fest: Bei den einst katastrophalen Wohnbedingungen wie auch in der Verantwortlichkeit habe sich viel verbessert. „Früher hingen wir in nicht endenden Warteschleifen. Heute haben wir Ansprechpartner“, sagte Szot.

Problematisch bleibt die Integration der Arbeiterinnen und Arbeiter, die auch nach Jahren in Deutschland meist unter sich bleiben. Szabolcs Sepsi, Regionalleiter Nordwest bei Faire Mobilität, berichtete, zum Deutschlernen sei zwischen „Arbeiten und Schlafen“ keine Zeit. Wenn die Menschen, oft wegen der harten Arbeit schon im Alter von 40 oder 50 Jahren, körperlich erledigt sind, stünden sie vor einer unmöglichen Wahl: „In Deutschland haben sie Anspruch auf Sozialleistungen, aber keine Kontakte, in ihrer Heimat Familien, aber keine finanzielle Unterstützung.“ Şerife Erol plädierte, angesichts der anhaltend unbefriedigenden Wohnsituation, in der Familien nicht zugelassen sind, müsse der Staat mit ins Boot: „Als Ausländerinnen und Ausländer mit einem Arbeitsvertrag, der oft befristet ist, haben sie auf dem freien Markt kaum eine Chance.“ 

Fünf Beschwerden abgewiesen

Die Fleischbranche leidet nicht unter der neuen Rechtslage: Laut Statistischem Bundesamt ist sowohl die Zahl der Beschäftigten als auch der Umsatz seit Inkrafttreten des ASKG gestiegen. Trotzdem läuft sie Sturm gegen das Gesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits fünf Beschwerden abgewiesen, eine wird noch geprüft. Ein vom Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) im Rahmen der Studie beauftragtes Gutachten kommt bereits jetzt zu dem Ergebnis, dass das Direktanstellungsgebot weder gegen das EU-weite Kartellverbot noch gegen die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit verstößt. Anneliese Kärcher, die es zusammen mit dem Arbeitsrechtler Manfred Walser in Berlin vorstellte, erklärte, eine Übertragung auf andere Branchen sei unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Ernesto Klengel, der Wissenschaftliche Direktor des HSI, betonte den Vorteil, unter dem Dach der Böckler-Stiftung sozialwissenschaftlich-empirische Erkenntnisse mit der Rechtslage zusammenfügen zu können: „Die Interdisziplinarität ist eine große Stärke der Stiftung.“

Über die Wirksamkeit eines Verbots von Werkverträgen in anderen Branchen wurde auf der Veranstaltung ebenfalls diskutiert. Stephan Teuscher Leiter der Tarif-, Beamten- und Sozialpolitik beim Verdi-Bundesfachbereich Postdienste, Speditionen und Logistik. zeichnete ein Bild extremer Uneinheitlichkeit in der Branche: Während bei Post/DHL zu 98 Prozent eigenbeschäftigtes Personal nach Tarif bezahlt wird, lassen UPS, GLS & Co. teils komplett, teils teilweise durch Subunternehmer zustellen. Neben den weltweit tätigen Konzernen sei die Zahl der Kleinunternehmen ohne Mitbestimmungsrechte mit 11.000 sehr hoch.  An Verstößen gegen Arbeits- und Sozialrechte – von Mietwucher für Sammelunterkünfte über Arbeitszeitbetrug bis zum Einbehalten von Ausweispapieren – herrsche wie einst in der Fleischindustrie kein Mangel. Ein Mitarbeiter des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums deutete an, die Kurier-Express-Branche könnte vor ähnlich intensiven Kontrollen stehen, wie sie in der Fleischindustrie durchgeführt wurden. Die dort festgestellten massiven Verstöße spielten nach einhelliger Ansicht für die Schaffung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes eine entscheidende Rolle.

Subunternehmen im Krankenhaus

Mitten aus einem laufenden Arbeitskampf berichtete Gisela Neunhöffer, Landesfachbereichsleiterin für Gesundheit bei Verdi Berlin-Brandenburg.  „Auch in Krankenhäusern sind viele nicht dort angestellt – von Medizintechnikern über Reinigungskräfte bis zu Physiotherapeuten“, erläuterte sie. In der Berliner Charité hat jeder zehnte einen Arbeitsvertrag mit der Tochtergesellschaft „Charité Facílity Management“ (CFM) und wird nicht nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes bezahlt, sondern zu niedrigeren Löhnen laut CFM-Haustarifvertrag. „TVöD für alle“ lautet die Verdi-Forderung. Um sie durchzusetzen, stimmten bei einer Urabstimmung über 99 Prozent der bei CFM beschäftigten Verdi-Mitglieder für einen unbefristeten Streik.

Für die IG BAU erklärte Antonius Allgaier: „Wir werden uns alles hier Besprochene genau anschauen“. Ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit könnte auch in der Branche mit 900.000 Beschäftigten in 80.000 Betrieben ein „Baustein im Kampf gegen Schwarzarbeit“ sein. Als größte Baustelle bezeichnete der Hauptabteilungsleiter Politik und Grundsatzfragen die Wiedereinführung des 2021 ausgelaufenen Branchenmindestlohns.

Der Bezirksleiter der IG Metall Küste Daniel Friedrich appellierte, den Blick – wie für die Fleischindustrie geschehen – weiterhin auf branchenspezifische Regeln zu richten. Für den Schiffsbau betrachtete er eine Haftung des Hauptbetriebs für alle Beschäftigten auf dem Werksgelände als zentral. Ein „komplettes Werkvertragsverbot“ sei für seine Branche ungeeignet, es gäbe viele Subunternehmer, zu deren Aufgaben Werkverträge gut passten.

Thorsten Schulten konstatierte abschließend, es gäbe „unterschiedliche Branchen und ähnliche Probleme“. Wo Werkverträge nicht inhaltlich begründet sind, etabliere das ein Zwei-Klassen-System, gegen das man sich wehren müsse. Und, mit Blick auf die Gewerkschaften: „Die beste Kontrolle findet statt, wo wir stark sind.“

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