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IMK Forum 2022: "Handel kann auch eine Waffe sein"

Die EU sieht sich derzeit mit mehreren Krisen gleichzeitig konfrontiert. Was das für die europäische Zusammenarbeit und Integration bedeutet, diskutierten führende Expert:innen auf Einladung des IMK.

Von Eric Bonse

Klimakrise, Corona und Krieg - die Europäische Union steht vor existenziellen Herausforderungen. Sie hat darauf mit neuen schuldenfinanzierten Ausgabenprogrammen, einer Aussetzung der umstrittenen Fiskalregeln und Wirtschaftssanktionen gegen Russland reagiert.

Darum ging es beim IMK Forum 2022 in Berlin. Zum Auftakt sprach sich Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, für eine neue Strategie bei der „Economic Governance“ aus. Nicht nur die Fiskalregeln, sondern die gesamte wirtschaftspolitische Strategie der EU müsse auf den Prüfstand.

Durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine kämen auf die EU und ihre Mitgliedsstaaten hohe Kosten zu, so Dullien. Das betreffe die Rüstung und die Folgekosten, die mit den verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland auf die Gemeinschaft zukommen. Auch der Wiederaufbau der Ukraine wird teuer. Gleichzeitig geht die Zeit des billigen Geldes zu Ende - die Inflation und steigende Zinsen werden zum Problem.

Vor diesem Hintergrund entspann sich auf der Konferenz eine komplexe und kontroverse Debatte. Unter anderem um die Themen: gewerkschaftliche Anforderungen an die EU-Politik, den Handel, die Energie und die Reform der „Economic Governance“.

Gewerkschaftliche Anforderungen

Der scheidende DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zog eine gemischte Bilanz der Europapolitik. Die EU habe sich in den letzten Jahren nicht in bester Verfassung gezeigt, sagte er. Der Austeritätskurs, die fehlende Solidarität in der Flüchtlingskrise und die Corona-Pandemie hätten viele Mängel offenbart - aber auch zu einem begrenzten Umdenken geführt. Auf Corona habe die EU mit dem schuldenfinanzierten Wiederaufbaufonds reagiert, es gebe auch ein Gelegenheitsfenster für den Klimaschutz.

Hoffmann sprach sich für eigene EU-Ressourcen aus, die aus der Finanztransaktionssteuer oder dem Emissionshandel finanziert werden könnten. Die Drei-Prozent-Defizitregel aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt müsse abgeschafft werden, sagte er. Auch die Schuldenquote und die Schuldentilgungsregel seien obsolet. Die Steuerpolitik sollte nicht mehr der Einstimmigkeit unterliegen.

Hoffmann sprach sich zudem dafür aus, die Tarifbindung in den EU-Ländern auf 80 Prozent zu erhöhen. Dies wäre ein „enormer Fortschritt“, auch in Deutschland. Angesichts der Inflation sei die Lohnpolitik allein überfordert, warnte er.

  • Bilder vom IMK Forum 2022
    Der scheidende DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann fordert eine höhere Tarifbindung in Europa.

Handel

Gustav Horn plädierte für einen neuen Ansatz in der Handelspolitik. „Ich habe immer gedacht, wo intensiv gehandelt wird, da schießt man nicht aufeinander“, sagte der Chef des wirtschaftspolitischen Beirats der SPD. „Doch offensichtlich ist Handel auch eine Waffe, die man nutzen kann“, sagte er. Dies gelte nicht nur für Russland, sondern auch für die EU und die USA, die nun die Waffe des Embargos einsetzen und die Öleinfuhr stoppen.

Die Zeitenwende habe auch eine wirtschaftspolitische Dimension, so Horn. Er schlägt eine neue, dreigeteilte Handelsordnung vor. Vorrang müssten Partner in der EU haben. Die EU dürfe sich dabei nicht nur als Handelsblock verstehen, sondern auch als Resilienzgemeinschaft, die wichtige Produkte selbst herstellt. Dies sei zwar teuer, angesichts des neuen Systemwettbewerbs aber unverzichtbar. In der zweiten Reihe sieht Horn enge Partner wie die USA, Türkei und Japan. Nur noch auf dem dritten Platz landen Handelspartner wie Russland oder China. „Wir müssen jederzeit in der Lage sein, sie zu ersetzen“, so sein Fazit.

Energie

Die Energiepolitik steht angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vor einem radikalen Umbruch. Neben dem Klimaschutz rückt plötzlich auch die Energiesouveränität in den Mittelpunkt. Allerdings steht die deutsche Politik dabei nicht immer im Einklang mit den europäischen Zielen, wie die hohe Abhängigkeit beim russischen Gas zeigt. Berlin ist deshalb unter Druck geraten. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht“, betonte der zuständige Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Jörg Kukies. Die Bundesregierung habe nicht langsam, sondern durchdacht reagiert und nunmehr die Weichen für einen geordneten Übergang gestellt. Nach der Abkehr von russischer Kohle, die in drei Monaten vollzogen sein soll, sei nun auch Öl an der Reihe. Bis zum Ende des Jahres könne der Ausstieg gelingen, so Kukies. Kein Zieldatum nannte er für Gas. Das Osterpaket der Bundesregierung schaffe jedoch die Voraussetzungen für einen zügigen Ausbau erneuerbarer Energien. Mit 60 Milliarden Euro im Transformationsfonds habe Deutschland die Mittel, dort zu investieren.

Economic Governance  

Seit dem Beginn der Corona-Pandemie hat die EU ihre Fiskalregeln ausgesetzt, um die Wirtschaft zu stützen. IMK-Direktor Sebastian Dullien überraschte bei diesem Thema mit einem optimistischen Befund. Die Fiskalregeln seien nicht so rigide wie oft behauptet. Sie könnten auch ohne Änderung des EU-Vertrags reformiert werden. So könne man die umstrittene Defizitregel mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat durch eine Ausgabenregel ersetzen. „Wenn Deutschland sich dafür einsetzt, wäre es machbar“, so Dullien. Investitionen in die Zukunft seien wichtiger denn je und könnten auch finanziert werden. Angesichts steigender Zinsen sei aber Vorsicht geboten - nicht jede Investition rechtfertige neue Schulden. Dies gelte etwa für Rüstungsausgaben. Sie sollten bei einer Reform der EU-Regeln nicht im Mittelpunkt stehen.

  • Bilder vom IMK Forum 2022
    DIW-Präsident Marcel Fratzscher plädiert für eine sozialere und klügere Globalisierung.

Fazit

Eine stärkere europäische Zusammenarbeit und Integration sei keine Option, sondern notwendig. Diese Einschätzung von Monika Schnitzer, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, war Konsens beim IMK Forum 2022. Vor allem bei der Rüstungs- und Verteidigungspolitik müsse die EU stärker und besser werden. Umstritten war jedoch, ob Aufrüstung durch neue Schulden finanziert werden soll.

Es sei noch nicht ausgemacht, dass die Krise dem Klimaschutz dient, sagte Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Man rede zu wenig über Beschäftigungssicherung, kritisierte DGB-Chef Reiner Hoffmann. Gustav Horn warnte, dass der neue Kurs der EU zu Wohlstandsverlusten führen werde. „Wir müssen alle mitnehmen, sonst schwächen wir uns selbst“, so sein Fazit.

Es gehe um eine sozialere und klügere Globalisierung, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die EU müsse sich von Russland unabhängiger machen, dürfe aber auch nicht der Illusion verfallen, dass man völlig autonom werden könne. Über das richtige Maß - und die passenden Maßnahmen - dürfte in den nächsten Wochen noch viel gestritten werden.

Die vollständige Dokumentation der Veranstaltung finden Sie hier.

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