Quelle: HSI
Service aktuellHSI-Preis 2024: Hugo Sinzheimer hätte es gefallen
In Frankfurt verlieh das Hugo Sinzheimer Institut (HSI) seinen Preis an Tobias Vogt, der sich mit der Frage, wann ist ein Betriebsteil betriebsratsfähig beschäftigt hatte. Doch zunächst ging es um die EU-Mindestlohnrichtlinie, die Ende November umgesetzt werden muss.
[11.11.2014]
Von Fabienne Melzer
Am Ende der Diskussion überraschte Jérôme Porta das Publikum der diesjährigen Sinzheimer-Vorlesung und Verleihung des Hugo Sinzheimer Preises mit einer Zahl. Auf die Frage, wie hoch denn die Tarifbindung in Frankreich sei, warf der Professor der Universität Bordeaux noch einmal den Rechner an und auf der Wand erschien neben einem großen Prozentzeichen die Zahl 98. Das Publikum, das überwiegend aus dem juristischen Fachbereich kam, staunte.
In der diesjährigen Sinzheimer-Vorlesung, die diesmal in den Räumen der Frankfurter Universität stattfand, ging es um die europäische Mindestlohnrichtlinie, die Ende November in Deutschland umgesetzt werden muss. Ein Thema, an dem der Namensvater des HSI der Hans-Böckler-Stiftung und Begründer des modernen Arbeitsrechts genauso seine Freude gehabt hätte wie an dem Thema der Dissertation des diesjährigen Preisträgers, wie Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des HSI in seiner Begrüßung anmerkte. Preisträger Tobias Vogt hatte sich in seiner Arbeit mit dem Thema Betrieb und Betriebsteil als zweiteiliges Puzzle auseinandergesetzt und mit der Frage, wann Betriebsteile betriebsratsfähig sind. Doch bevor Martin Gruber-Risak, Professor an der Universität Wien, die Laudatio halten und Ernesto Klengel den Preis übergeben durfte, stellte Jérôme Porta die EU-Mindestlohnrichtlinie und ihre mögliche Wirkung vor.
Erneuerung des sozialen Europas
Unabhängig von der Frage, wie die Mindestlohnrichtlinie sich auf nationaler Ebene auswirken wird, hat sie nach Auffassung des französischen Rechtswissenschaftlers auf europäischer Ebene die politischen Schwerpunkte bereits verschoben. „Vor einigen Jahren wäre ein solches Projekt noch eine Provokation gewesen“, sagte Porta. „Jahrzehntelang dominierte der Binnenmarkt in Europa. Die Mindestlohnrichtlinie bedeutet eine Erneuerung des sozialen Europas.“
Maßnahmen der EU dürfen keine unmittelbare Auswirkung auf das Lohnniveau der Mitgliedsstaaten haben. Damit beschränkt sich der Inhalt der Mindestlohnrichtlinie. Sie schreibt weder einen Mindestlohn noch dessen Höhe vor. Aber sie formuliert Indikatoren für einen angemessenen und gerechten Mindestlohn. Die Richtline sieht ihn bei 60 Prozent des Medians des nationalen Bruttolohns. Sie formuliere einen fairen Preis für Arbeit und unterwerfe damit nationale Lohnsysteme einer Vergleichbarkeit. Damit gehe sie auch über das Ziel hinaus, Armut trotz Arbeit zu bekämpfen. „Ein angemessener Preis für Arbeit ist mehr als Armutsbekämpfung“, sagte Porta.
Neben der Festlegung, wann ein Mindestlohn angemessen und gerecht ist, fordert die Richtlinie die Staaten auf, Erwerbsarmut durch eine höhere Tarifbindung zu bekämpfen. Hier habe sich gezeigt, dass bei eine Tarifbindung von 80 Prozent der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn unter 10 Prozent liege. Daher hat die Richtlinie 80 Prozent als Ziel gesetzt.
Möglichkeiten der Richtlinie erkennen
Im Publikum äußerten sich manche dennoch skeptisch. Die Kritik drehte sich darum, dass der Richtlinie die normative Kraft fehle und Entgeltpolitik ohnehin Aufgabe der Tarifparteien sei. Jérôme Porta entgegnete: „Wir sollten die Möglichkeiten der Richtlinie erkennen. Sie ist ein Programm, das nationales Recht verändern soll.“ Wie genau, das werde von Land zu Land sehr unterschiedlich sein.
Mitbestimmung in Zeiten der Digitalisierung
Im Anschluss hielt Martin Gruber-Risak von der Universität Wien seine Laudatio auf den diesjährigen Träger des Hugo Sinzheimer Preises. Tobias Vogt erhielt die Auszeichnung für seine Dissertation mit dem Titel: „Betrieb und Betriebsteil als zweiteiliges Puzzle – Auslegung und Reformpotenzial unter Einbezug des US-amerikanischen National Labor Relations Act.“ Dabei geht es um die Frage, wie sich das Recht auf Mitbestimmung in neuen Betriebsstrukturen verankern lässt.
Gruber-Risak lobte das klare Konzept und das durchgängige Narrativ der Arbeit. So bleibe Tobias Vogt nicht rein in der rechtswissenschaftlichen Theorie, sondern beginne praktisch mit Beispielen aus der Arbeitswelt, die von klassischen Strukturen wie dem Aufbau in Filialen, über eine Matrix bis zu App-gesteuerten Kurieren reiche. Stringent sei auch hier, dass er die Beispiele am Ende wieder aufgreife. Mit dem Betriebsbegriff habe Tobias Vogt sich die Urzelle des Arbeitsrechts vorgenommen. Da hierüber schon viel geschrieben wurde, falle es schwer, dem noch Neues hinzuzufügen. Tobias Vogt sei es aber gelungen. „Es geht darum, Mitbestimmung in Zeiten der Digitalisierung operabel zu machen“, sagte Gruber-Risak.
Am Ende komme Vogt weg von einer Reform des Betriebsbegriffs zu einer Reform der Definition betriebsratsfähiger Einheiten. Diese Einheiten grenzten sich durch ein gemeinsames arbeitsrechtsrelevantes Interesse ab. Er schlägt dazu vier Modifikationen vor, unter anderem sollen die Beschäftigten eines Betriebsteils sich gegen die Teilnahme an der Wahl des Haupt-Betriebsrats entscheiden und einen eigenen Betriebsrat wählen können.
Der Vergleich mit US-amerikanischem Recht hielt Gruber-Risak bei diesem Thema durchaus für angebracht. Er diene nicht nur einem möglichen Forschungsaufenthalt in den Vereinigten Staaten, wie der Laudator scherzhaft anmerkte. „Neue Arbeitsformen haben sich in den USA früher entwickelt als bei uns“, sagte Gruber-Risak. Daher lohne sich der Blick auf das US-amerikanische Recht und seinen Umgang mit der digitalisierten Arbeitswelt. Und auch hier zeige sich, dass Beschäftigte sich zunehmend anhand von Interessen abgrenzen, als community of interests.