Quelle: Anna Weise
Service aktuellGleichstellungsforum 2023: Die digitale Lücke zwischen den Geschlechtern
Auf dem diesjährigen Gleichstellungsforum Anfang März in Berlin ging es um neue Machtfragen, die die Digitalisierung stellt, und wie sie im Sinne der Gleichstellung der Geschlechter beantwortet werden können. Eingeladen hatten das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) und das Hugo Sinzheimer Institut (HSI).
[08.03.2023]
Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer
Die Lücke zwischen Frauen und Männern hat viele Namen. Der Gender Pay Gap beschreibt den Abstand beim Einkommen, der Gender Time Gap bei der Arbeitszeit und der Gender Care Gap den unterschiedlichen Anteil an unbezahlter Sorgearbeit. Auf dem Gleichstellungsforum, zu dem HSI und WSI der Hans Böckler Stiftung gemeinsam nach Berlin eingeladen hatten, drehten sich viele Vorträge und Diskussionen um eine Lücke, die sich neu auftut: den Gender Digital Gap.
Algorithmen, Künstliche Intelligenz, vernetzte Systeme gehören längst zum Arbeitsalltag. Sie verändern Berufe und das, was Menschen an ihrem Arbeitsplatz können müssen. Da sind Männer zurzeit klar im Vorteil. Technikverständnis wird ihnen qua Geschlecht zugeschrieben. Frauen wird es abgesprochen.
Yvonne Lott vom WSI hat untersucht, wie die Geschlechter mit digitaler Technik umgehen. Während Frauen und Männer Computer und Standardsoftware in gleichem Maße nutzen, öffnet sich die Schere zwischen ihnen bei spezieller Software und vernetzter Technik wie Online-Plattformen, Cloud-Diensten oder selbstlernenden Programmen. Mit letzterer arbeiten 54 Prozent der Männer und nur 44 Prozent der Frauen. Mit Programmiersprachen gehen 10 Prozent Männer und gerade einmal 2 Prozent der Frauen am Arbeitsplatz um. Daher warnt Yvonne Lott: „Der Gender Digital Gap kann Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt verstärken, wenn wir nicht gegensteuern.“
Gegensteuern ließe sich mit Qualifizierung, womit sich ein Panel auf der Tagung befasste. Die Ausgangslage sieht nicht gut aus: Nicht einmal die Hälfte aller Frauen in Deutschland verfügen über Grundkompetenzen der Digitalisierung. Diese Lücke verfestigt sich im Berufsleben, wie Sarah Widnay vom Deutschen Hochschul- und Wissenschaftsforum feststellt. Vor allem betriebliche Weiterbildungen beschäftigten sich mit Digitalisierung und sie würden stärker von Männern genutzt. Gundula Zoch, Professorin an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg hat untersucht, welche Rolle Kinder bei der Teilnahme an Weiterbildungen spielen. Auch hier driften die Geschlechter auseinander. Bei Frauen sinken die Teilnahmequoten nach der Geburt eines Kindes doppelt so stark wie bei Männern. Einen besonders starken Rückgang verzeichnete sie bei Frauen während der Pandemie.
Sarah Widnay nannte drei Punkte, an denen sich Weiterbildung deshalb ändern müsse: Die Akteure müssten für diese Ungleichheit sensibilisiert und Arbeitsmarktinstrumente auf Gleichstellungsziele geprüft werden. „Gleichzeitig müssen die Erwartungen realistisch bleiben“, sagte Widnay. „Hier lernen Erwachsene, die sehr unterschiedliche Lernerfahrungen mitbringen.“
Digital - aber nicht gerechter
Anja Abendroth, Juniorprofessorin für technischen und sozialen Wandel an der Universität Bielefeld, wies auf einen Widerspruch hin, der ebenfalls an altbekannte Muster anknüpft: Einerseits schaffe digitales Monitoring am Arbeitsplatz – die automatische Speicherung von Arbeitsschritten – eine Datenbasis, um Leistungen unabhängig zu bewerten und damit auch unabhängig von Geschlecht und Mutterdasein zu bezahlen. Andererseits nütze Frauen das bislang nichts. Zwar verhandeln deutlich mehr Mütter über ihre Karriere, wenn es im Betrieb digitales Monitoring gibt, auf die Gehaltsunterschiede hat es aber keinen Einfluss. Und für Mütter gibt es auch negative Effekte. In Betrieben mit digitalem Monitoring sehen sie sich häufiger Leistungsbewertung ausgesetzt als Väter und fühlen sich stärker überwacht. So lautet Anja Abendroths Fazit: „Weniger Autonomie statt mehr Gerechtigkeit.“
Frauen bleiben Dazuverdienerinnen
In der WSI-Studie zeigte sich darüber hinaus, dass der Gender Digital Gap auch mit dem altbekannten Teilzeit-Gap zusammentrifft. „Es gibt eine Analogie zwischen dem Zugang zu komplexer Technik und Vollzeit“ stellte WSI-Forscherin Lott fest. Auch Gundula Zoch sah hier einen Vorteil der Männer: „Sie steigen nicht eineinhalb Jahre aus dem Beruf aus. Sie haben die Zeit, sich mit der Technik zu beschäftigten.“
Denn an dem typisch-deutschen Zuverdienerinnenmodell – der Mann ist der Ernährer, die Frau verdient on top – ändert sich nur sehr langsam etwas. Das zeigte die Diskussion im Panel zur Arbeitszeit. Rückläufig sei immerhin die Zahl der Frauen, die in sehr kurzer Teilzeit – 1 bis 19 Stunden – arbeiten, berichtete Angelika Kümmerling von der Universität Duisburg-Essen. Bei Männern sei ein leichter Trend zu kürzerer Vollzeit zu erkennen. Insgesamt gelte aber: „Wenn Kinder kommen, geht die Arbeitszeit bei Frauen massiv zurück, bei Männern nicht“. Der Trend zu flexibler Arbeit ändert daran bisher nichts, entscheidend bleibe, woran Gleichstellung schon in der analogen Welt scheiterte: Männer müssten mehr Care-Arbeit übernehmen. Als dafür wichtige Punkte nannte Kümmerling: eine Erhöhung der sogenannten Partnermonate, mit denen der Bezug des Basiselterngelds sich verlängert, kombiniert mit einer Beschränkung jener Monate, die gemeinsam absolviert werden können. Weiter hilfreich: eine Abschaffung des Ehegattensplittings sowie der Steuerklassen 3 und 5. Kümmerling: „Wir müssen die Fehlanreize reduzieren.“
Anja Weusthoff vom Deutschen Gewerkschaftsbund verwies auf den Entwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz, den der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften 2022 vorgelegt haben. Das darin festgehaltene Initiativ- und Mitbestimmungsrecht von Betriebsräten zur Herstellung von Entgeltgerechtigkeit sei in Transformationszeiten unerlässlich. Der Ampelkoalition attestierte die DGB-Frauenexpertin Vernachlässigung auch jener gleichstellungspolitischen Aufträge, die sie sich selbst erteilt hat: „Die Partnermonate sind verschoben. Jetzt soll – vielleicht – die Väterfreistellung um die Geburt kommen. Wir werden da dranbleiben“, kündigte Weusthoff an. Sie erinnerte auch an den Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft, den der Juristinnenbund vorgelegt hat, darin enthalten: Die verpflichtende Entwicklung von Wahlarbeitszeitkonzepten für größere Unternehmen. Mitgeschrieben hat daran die Arbeitsrechtlerin Heide Pfarr, die in Berlin noch einmal erklärte, worum es geht: „So würden Bedürfnisse nicht länger individuell betrachtet; und es Männern schwerer gemacht, zu sagen >Ich würde ja gern, aber man lässt mich nicht<“.
Drei kurze Auszüge aus ihrem Bestseller „Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“ gab Teresa Bücker dem Publikum der Tagung als Anstoß für weitere Diskussionen mit. Darin definiert die Autorin Zeit als Dimension von Gerechtigkeit und fordert eine Zeitkultur, in der Erwerbsarbeit nicht mehr das Wichtigste ist. Nur dann könnten große gesellschaftliche Herausforderungen wie der Klimawandel wirklich begriffen werden. Zudem sinke ehrenamtliches Engagement, wenn Erwerbsarbeit alles bestimmt. Ein Stichwort für WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch, die das Gespräch mit der Autorin führte. Schließlich ist das Ehrenamt eine wichtige Säule der Mitbestimmung. „Solidarität braucht gemeinsame Zeit“, sagte Kohlrausch.
Daten schreiben die Vergangenheit fort
Nicht nur der Umgang mit Technik schafft Ungleichheiten auch die Anwendung von Technik, wie maschinelles Lernen, kann Menschen benachteiligen. Ein Beispiel dafür lieferte Bianca Prietl, Geschlechterforscherin an der Universität Basel: Mit algorithmischer Unterstützung hatte der österreichische Arbeitsmarktservice – etwa vergleichbar mit der hiesigen Bundesagentur für Arbeit – Arbeitsuchende in Kategorien eingeteilt. „Der AMS hatte den Algorithmus mit Arbeitsmarktdaten aus den vergangenen Jahren trainiert, der damit unter den Arbeitsuchenden hoffnungslose Fälle identifizierte“, sagt Prietl. In einem ähnlichen Beispiel siebte ein Recruiting Tool von Amazon Bewerbungen von Frauen schon vor der Einladung eher aus. „Das ist algorithmische Diskriminierung,“ erklärte Prietl – aber keine, die der Algorithmus selbst macht. „Wir treffen Entscheidungen für die Zukunft auf Basis von Daten aus der Vergangenheit. Damit schreiben wir Herrschaftsverhältnisse nicht nur fort, wir verstärken sie.“ Ihr Plädoyer: Daten mit politisch-emanzipatorisch-demokratischen Zielen verknüpfen und sich von der Vorstellung verabschieden, dass Daten neutral sind.
Besonders umfangreiche Datensätze machen es nicht besser. Im Gegenteil, wie Victoria Guijarro Santos von der Westfälischen Wilhlemsuniversität in Münster erklärte: „Wenn Mütter bei Bewerbungen vom Algorithmus aussortiert werden, dann weil wir so viele Daten über Mütter haben. Unsere Daten haben auch immer Folgen für andere“, sagt Guijarro Santos. Die Wissenschaftlerin kritisierte, dass eine diskriminierte Mutter zwar nicht rechtlos sei, das Gesetz Diskriminierung aber zu ihrem individuellen Problem mache: „Nach der DSGVO muss sie nachweisen, dass sie genauso gut ist, wie der Mann der an ihrer Stelle eingestellt wurde. Ähnlich ist es beim Allgemeinen Gleichstellungsgesetz, immer muss der einzelne nachweisen, dass die perfekte Technik irrt.“ Die Frage dürfe nicht sein, wie Daten aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen sich korrigieren lassen, sondern ob wir Entscheidungen der Vergangenheit einfach fortführen wollen. Dazu brauche es eine öffentliche Dateninfrastruktur, die auch Daten gegen Diskriminierung aufnehme und Betriebsräte, die darüber entscheiden, was genutzt werden soll und was nicht.
Wer ersetzbar wird
Digitalisierung kann Menschen auch überflüssig machen und auch das trifft oft Frauen, etwa in den Bereichen Unternehmensführung und unternehmensnahe Dienstleistungen, denen Britta Matthes vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) eine weitgehend automatisierte Zukunft voraussagt. „Die Steuerfachangestellte hat ein Substitutionspotenzial von 100, einen Frauenanteil von 77 Prozent“, sagt die Leiterin der Forschungsgruppe „Berufliche Arbeitsmärkte“ am IAB. (Die Zukunft für jeden Beruf berechnet Job-futuromat.iab.de).
Außerdem arbeiten Frauen im gesamtgesellschaftlichen Vergleich zwar seltener als Männer in Berufen, in denen sie ersetzbar sind. Sie werden in der Praxis aber häufiger ersetzt, sobald es Rationalisierungsmöglichkeiten gibt. Es geht aber auch anders: Alexandra Scheele, Universität Bielefeld, berichtete von einer HBS-geförderten Mikrostudie zu Entgeltgleichheit im Betrieb und Digitalisierung. In einem der vier untersuchten Betriebe – der Keksfabrik Bahlsen – gelang es einer engagierten Betriebsrätin, Frauen so zu qualifizieren, dass sie statt als Packerinnen zu arbeiten, nun Maschinen steuern. Auch tariflich wurden sie höher eingruppiert. Voraussetzung dafür ist, dass die Tarifwerke auf der Höhe der Zeit sind, was nicht in allen der von der Forscherin beobachteten Fällen zutraf: „Er war so alt, dass er die neuen Tätigkeiten nicht widerspiegelt,“ berichtete Scheele. Gefordert wurde eine regelmäßige Überprüfung der Entgeltstrukturen in Unternehmen, wie sie das Entgelttransparenzgesetz für Betriebe ab 500 Beschäftigten vorschreibt. Diese finde – auch laut einer WSI-Betriebsrätebefragung – zu selten und oft nach nicht zertifizierten Verfahren statt.
Was braucht Frau
Die stellvertretende DGB-Vorsitzende, Elke Hannack, verwies in der Abschlussdiskussion darauf, was Frauen brauchen – unter anderem ein Initiativrecht des Betriebsrats in Fragen der Qualifikation, wie es in dem DGB-Entwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz steht. In den Fokus geriet in dieser Runde vor allem das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, erklärte, dass KI und Diskriminierung zwar eines der großen Themen der Zukunft sei, allerdings fehlten bislang Fälle. Daher habe die von ihr geleitete Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Gutachten in Auftrag gegeben, wie diskriminierende Algorithmen vor Gericht bewertet werden. „Wir brauchen da Rechtssicherheit.“ Zurzeit könnten Menschen oft nicht nachweisen, dass eine Entscheidung sie diskriminiert hat,“ so Ataman.
Johanna Wenckebach, Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts erneuerte die aus ihrer Sicht von Beginn an gültige Kritik an dem AGG: „Ein Ansatz, der auf individuelle Rechtsdurchsetzung setzt, ist stumpf gegen Machtstrukturen. Es fehlen kollektive Rechte.“ Die HSI-Direktorin forderte die Ampelkoalition und insbesondere das FDP-geführte Justizministerium auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarte AGG-Reform endlich anzugehen. Sie warnte auch vor einer überwiegend technischen Sicht auf das Problem: „Damit blenden wir Machtstrukturen aus.“ Aus der Wirtschaft und Politik gäbe es oft Bedenken, dass mehr Rechte den Fortschritt bremsen. Deshalb erinnerte sie daran: „Es geht hier um unsere Grundrechte.“
Elke Hannack forderte ein Verbandsklagerecht sowie einen Auskunftsanspruch für Frauen, „die von algorithmischen Entscheidungssystemen beherrscht werden“ sowie die regelmäßige Überprüfung in Betrieben und Unternehmen, ob diese den Grundsätzen des AGG widersprechen.
Zum Abschluss erinnerte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch: „Es sind Menschen, die entscheiden, welche Technik eingesetzt wird.“