Quelle: Gerngross + Glowinski
Service aktuell: „Das Geld ist da“
Rund 220 Menschen aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Politik und Verbänden diskutierten beim WSI-Herbstforum 2024 über soziale Ungleichheit, Verteilungskonflikte und die drängende Frage, wie die Politik entgegensteuern kann. Denn es geht um nicht weniger als die Demokratie.
[25.11.2024]
Von Jeannette Goddar und Fabienne Melzer
Gerade einmal zehn Tage lagen zwischen der Vorstellung des WSI-Verteilungsberichts und dem WSI-Herbstforum. Gefühlt jedoch passte zwischen den ersten Montag im November und den Donnerstag der Folgewoche ein halbes Leben: Trump-Wahl in den USA, Ampel-Aus in Deutschland, Koalitionsgespräche-Abbruch in Sachsen. Claudia Bogedan, von der das Bild von dem „halben Leben“ stammt, konnte der Ansammlung von politischen Beben nichts Ironisches abgewinnen. „Ich bin bis ins Mark in meinen demokratischen Grundfesten erschüttert“ erklärte die Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung zur Eröffnung des WSI-Herbstforums, der zentralen jährlichen Konferenz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Stiftung.
Das waren nicht nur offene Worte. Sie markierten auch den Auftakt von zwei Tagen, durch die sich die Erschütterung demokratischer Grundfesten wie ein roter Faden zog. Denn schon vor US-Wahl und Ampel-Aus war unübersehbar, wie sehr die unterschiedliche Verteilung von Wohlstand und Ressourcen zu Konflikten führt, wie stark der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert. „Verteilungskonflikte – Herausforderung für die Demokratie“ lautete der Titel des WSI-Herbstforums, bei dem debattiert werden sollte, wie dem Einhalt geboten werden könne. „Denn Ungleichheit ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen“, sagte Bogedan. „Die Verteilungsfrage, untermauert von Empirie, gehört in den Mittelpunkt der politischen Debatte“.
Kein Geld für neue Kleidung
Daten, um sich in diesen Mittelpunkt zu begeben, liefert der diesjährige WSI-Verteilungsbericht. Detailliert führt er auf, dass sowohl die Einkommensungleichheit wie auch die Armut einen neuen Höchststand erreicht haben. Nahezu 18 Prozent der Menschen litten 2021 – und das war noch das Jahr vor den großen Preissteigerungen – unter Armut, rund vier Prozent mehr als 2010. Dorothee Spannagel, die am WSI das Referat für Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik leitet, erklärte dazu: „Jeder zehnte in Deutschland kann abgetragene Kleidung nicht ersetzen, 17 Prozent nicht mal ein Mal pro Monat ins Kino oder zu kulturellen Veranstaltungen gehen.“ Zusammen mit Jan Brülle, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am WSI, stellte sie den Bericht den rund 220 Anwesenden und bis zu 140 weiteren online Zuschauenden vor.
Zu den knapp 18 Prozent, die in Deutschland in Armut leben, kommen 15 Prozent in mit Blick auf das Einkommen prekären Verhältnissen; zusammengenommen ist das ein Drittel. Die Folgen sind dramatisch. Denn erstens kommt zu dem objektiven Zustand des Ausgeschlossenseins noch das subjektive Gefühl, nicht Teil der Gesellschaft zu sein – Spannagel verglich es mit jenen, die nicht zu einer Party eingeladen sind. Zweitens führt die materielle Teilhabekrise zu Verunsicherung und Zukunftsängsten, die Menschen das Zutrauen in den Staat und das politische System verlieren lassen. Es sei „alles so in Unordnung geraten, dass man manchmal nicht mehr weiß, wo man steht“ – dem stimmen in der unteren Einkommenshälfte 53 Prozent zu, in der oberen Mittelschicht 37. Mit 35,1 Prozent glaubt „unten“ mehr als jede*r dritte, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“, in der einkommensmäßig „oberen Mitte“ mit 26 Prozent „nur“ gut jede*r vierte. Dazu passend haben 19, 9 Prozent versus 10,9 Prozent nicht die Absicht zu wählen.
Grüne und AfD-Anhänger bleiben unter sich
Wachsende Ungleichheit bleibt aber auch gesamtgesellschaftlich nicht ohne Folgen. Olaf Groh-Samberg von der Universität Bremen nimmt in seiner Forschung den gesellschaftlichen Zusammenhalt unter die Lupe. Die Universität Bremen gehört zu den elf Standorten des Forschungszentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das im Juni 2020 von der Bundesregierung gestartet wurde. Gesellschaftlicher Zusammenhalt werde von der Mehrheit der Menschen positiv bewertet. „Fast die Hälfte sieht ihn aber durch wachsende Ungleichheit gefährdet“, sagte Groh-Samberg. Während vor allem der Anteil der Armen in den vergangenen 30 Jahren wuchs, die Zahl der Wohlhabenden leicht stieg, schmolz die Mitte ab. „Ausstiege aus der Armut haben abgenommen“, sagte Groh-Samberg, „auch die gesellschaftliche Teilhabe entwickelt sich qualitativ auseinander.“
Gleichzeitig sind die Gruppen, in denen sich die Menschen bewegen häufig homogen. Vor allem Menschen, die der AfD oder den Grünen nahestehen, bleiben sehr häufig unter sich, ebenso die Angehörigen höherer Bildungsschichten. „Das führt zur Wahrnehmungseinschränkung“, sagte Groh-Samberg, „Menschen halten ihren Teil der Wirklichkeit für die ganze Wirklichkeit.“ Deshalb sei der Brexit für viele ein Erwachen gewesen. „Menschen haben plötzlich erkannt, dass es offenbar große Gruppen gibt, die anders denken als sie selbst“, sagte Groh-Samberg. Diese Entwicklung habe insgesamt zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft geführt.
Der Bremer Wissenschaftler beließ es allerdings nicht bei der ernüchternden Analyse, er hatte auch eine Lösung. Klassengesellschaften basierten darauf, dass jede Klasse für ihre Rechte kämpfte. Konflikte wurden im Sozialstaat und im Tarifsystem gelöst. Da dies nicht mehr der Fall sei, wenn soziale Infrastruktur und Tarifbindung erodierten, komme es jetzt auf die Solidarität jener, denen es noch einigermaßen gut geht, mit den Prekären und Armen an. „Es geht um einen Zusammenhalt im Sinne von Klassenkoalitionen, wie wir sie bisher nicht kannten“, sagte Groh-Samberg.
„Wir sind kein solidarisches Land mehr“
In eine ähnliche Kerbe stieß Ulrich Schneider, bis 2024 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV). Der Politik sei es trotz zahlloser Entlastungspakete nicht gelungen, die Gesellschaft zusammenzuhalten. In seinem aktuellen Buch „Krise. Das Versagen einer Republik“ stellt Schneider Deutschland ein schonungsloses Zeugnis aus: Die „sozialstaatliche Selbstüberschätzung“ speise sich aus einer Zeit, in der die Armutsquote noch bei 10, nicht bei über 17 Prozent lag: „Deutschland ist alles mögliche, aber bestimmt kein solidarisches Land. Deutschland ist unsozial.“ Gefragt, ob er außer Kritik auch Konzepte hätte, konstatierte der einstige DPWV-Geschäftsführer nüchtern: Die liegen alle längst auf dem Tisch: „Alles, was getan werden muss, um die Gesellschaft zusammenzuhalten kostet Geld – viel Geld. Aber wir haben das Geld.“
Dazu passten auch Berechnungen von Charlotte Bartels, Ökonomin an der Universität Leipzig, zur Konzentration des Vermögens in Deutschland, die das Gefühl der gespaltenen Gesellschaft objektiv wie subjektiv noch verstärken: Den ärmeren 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gehören drei Prozent des Vermögens, dem reichsten Prozent knapp 30 Prozent. Bartels: „Bei der Vermögensungleichheit ist Deutschland europaweit Spitzenreiter“.
Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi verwies noch auf eine andere Seite der sozialen Schieflage. Nicht nur Einkommen und Vermögen seien ungerecht verteilt. „Wir müssen auch die Ausgabenseite sehen“, sagte Fahimi. Angesichts steigender Mieten und Energiepreise können Menschen mit wenig Einkommen selbst das Nötigste kaum noch bezahlen. Und was schon im Arbeitsleben kaum reicht, reicht für die Pflege erst recht nicht mehr. Deshalb seien auch stabile Sozialversicherungen, ein gutes Bildungssystem und eine funktionierende Infrastruktur Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Das alles ließe sich jedoch nicht „nebenbei“ aus laufenden Staatshaushalten finanzieren – oder nur mit einem sozialen Kahlschlag. „Wenn wir fehlende Investitionen gegen Sozialausgaben ausspielen, fliegt uns der Laden um die Ohren“, warnte Fahimi. Deshalb sprach sie sich erneut für eine Reform der Schuldenbremse aus. Auch in einer Stärkung der Tarifverträge sieht die DGB-Vorsitzende eine Einnahmequelle für notwendige Investitionen. „Durch Tarifflucht gehen dem Staat jährlich 130 Milliarden Euro verloren“, sagte Fahimi.
In Realutopien denken
Doch auch an anderer Stelle lasse der Staat viel Geld liegen, etwa bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer. Fabian Pfeffer von der Ludwig-Maximilians-Universität in München plädierte in der Schlussrunde mit Yasmin Fahimi dafür, sich nicht von all den Gegenargumenten abschrecken zu lassen und so etwas wie die Vermögenssteuer einfach mal durchzurechnen. Eine solche Steuer in Höhe von ein, zwei oder sogar zehn Prozent verändere kaum den Gini-Koeffizienten, der die Verteilung von Einkommen und Vermögen beschreibt, bringe aber enorme Einnahmen. „Wir kennen viele gute Maßnahmen, sie alle kosten Geld und wir haben das Geld“, fasste auch Pfeffer zusammen. Hilfreich seien Realutopien, politische Modelle abseits der politischen Machbarkeit. Man müsse einfach mal über den eigenen Tellerrand schauen, denn dort gebe es vieles, was uns utopisch erscheint. Bezahlbares Wohnen in einer Großstadt? Siehe Wien oder eine gemeinsame Schulzeit bis zur 12 Klasse? Siehe Skandinavien. „Wir müssen eine andere Zukunft beschreiben“, sagte Pfeffer.
Reiche kaufen sich Zugang zur Macht
An einer Definition, wer eigentlich die Reichen in diesem Land sind, hatte sich Christian Neuhäuser von der Technischen Universität Dortmund in der Diskussion mit Natascha Strobl, Politikwissenschaftlerin aus Wien, versucht. „Reich ist man, wenn man viel mehr Geld hat, als man braucht, um in Würde zu leben“, sagte Neuhäuser. In Würde lebt der Mensch, wenn er gleichrangig mit allen anderen am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Reichtum fange daher nicht erst bei den Superreichen an. Politischer Einfluss hänge von Ressourcen ab. Wenn 50 Prozent aber kein Vermögen besitzen, beschränke das ihre Teilhabe und werde zum gesellschaftlichen Sprengstoff.
Wie sehr politische Einflussnahme vom Geld abhänge, zeigte Natascha Strobl mit einem Verweis auf die USA: „Dort können sich Milliardäre den Zugang zur Macht kaufen.“ Neuhäuser verwies darauf, dass die massive Konzentration von Kapital in den Händen von wenigen autoritäre Strukturen stärke. Dazu tragen auch die Schicksalserzählungen des Kapitalismus bei. Gemeint ist damit die Sachzwanglogik eines einzigen Weges ohne Alternativen. Egalitärere Gesellschaften seien dagegen weniger anfällig für autoritäre Strukturen und daher für alle gesellschaftlichen Schichten gut.
Natascha Strobl, machte für den Autoritarismus der Gegenwart den Neoliberalismus der 1980er Jahre verantwortlich. Auch mit dem dritten Weg, den die Sozialdemokratie in den 1990er Jahren in verschiedenen Ländern einschlug, nahm die Solidarität ab. Nicht mehr die Gemeinschaft, sondern die Eigenverantwortung stand im Vordergrund. „Das war zu viel und hat zur Ermüdung des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft geführt“, sagte Strobl. Die Expertin für Rechtsextremismus nimmt ein Unbehagen bei den Menschen wahr, von dem sie nicht wissen, woher es kommt, und das deshalb in Kulturkämpfe umgedeutet werde. „Kulturkämpfe halten Gesellschaften aber davon ab, sich mit den tatsächlichen Ursachen des Unbehagens zu beschäftigen“, sagte Strobl. Die Abstiegsangst vieler Menschen sei real und die extreme Rechte habe derzeit ein Monopol auf Zukunftsaussichten. Dabei wüssten die Menschen sehr gut, was sie brauchen. „Wenn sie Leute fragen, was für sie ein gelungener Tag ist, sagt niemand, ein Tag, an dem zehn Flüchtlinge abgeschoben werden“, sagte Strobl. „Ein gelungener Tag ist für fast jeden ein Tag mit Freunden oder Familie, ein Tag ohne Stress an der Arbeit.“
Panels
In parallelen Runden wurden einzelne Aspekte von Ungleichheit, antidemokratischen Einstellungen und Beteiligung vertieft. Vier kurze Zusammenfassungen:
Panel 1: The politics of inequality: Wahrnehmung, politische Präferenzen und politische Mitbestimmung
Tobias Tober, vom Exzellenzcluster „The politics of inequality“ der Universität Konstanz, beschäftigte sich mit der Frage, wie technologischer und ökologischer Wandel von Beschäftigten als Risiko wahrgenommen werden und was sie aus ihrer Sicht vor diesen Risiken am besten schützt. Eine Erkenntnis: „Während Arbeitsmarktexperten eher Investitionen in Qualifizierung und ähnliches empfehlen, wünschen sich die Betroffenen vor allem soziale Kompensationen wie ein höheres Arbeitslosengeld.“ Die Lösung liegt nach Ansicht des Forschers in einem Mix aus beidem.
In einem anderen Projekt des Forschungsclusters schaute sich Oliver Schlenker an, welchen Einfluss die Mitbestimmung bei technischem Wandel auf Einkommen hat. Das Ergebnis: Mitbestimmung kann die Einführung neuer Technik begleiten, für Qualifizierung der Beschäftigten sorgen und damit Löhne und Beschäftigung, insbesondere älterer Beschäftigter, stabil halten.
Bei den Vorträgen von Nadja Wehl ging es um Wahrnehmung, zum einen die der eigenen Einkommenssituation und zum anderen der Wahrnehmung von Unfairness bei jungen Menschen in der Schule. Dabei stellte sie fest: „Unsere Wahrnehmung bildet Realität nicht optimal ab, ist aber politisch relevant. Unfairness könne in zwei entgegengesetzte Richtungen wirken. Sie kann mobilisieren und demobilisieren.
Panel 2: Infrastrukturen und Dienstleistungen: Ungleichheiten bei Zugang und Erreichbarkeit
Teilhabe wird davon mitbestimmt, wie es um staatliche Infrastrukturen und Daseinsvorsorge bestellt ist: „Demokratie muss sich auch daran messen lassen, was sie zur Verfügung stellt“, erklärte Florian Blank, Leiter des Referats Sozialpolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI). Er moderierte ein Panel, das Aspekte der Zugänglichkeit des Sozialstaats sowie des Gesundheitswesens debattierte.
Tanja Klenk (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) und Samuel Greef (Universität Kassel) legten am Beispiel des Onlinezugangsgesetzes dar, wie stark sich Ungleichheit im föderalen Staat fortsetzt. Denn auch die Umsetzung des 2017 in Kraft getretenen Gesetzes, das einen leichteren digitalen Zugang zu Dienstleistungen verschaffen soll, ist von Reichtum und Armut geprägt: „Je ärmer die Kommune, desto weniger Onlinedienstleistungen werden angeboten“, erklärte Greef, der in hessischen Gemeinden eine Bandbreite von 0 bis 154 digitalen Dienstleistungen ermittelte. Julia Bläsius (Friedrich-Ebert-Stiftung) forderte in ihrem Kommentar: „Der Staat muss nicht schlank sein, er braucht kontinuierliche Ressourcen.“
Der Gesundheitsversorgung in Deutschland stellte Thomas Gerlinger (Universität Bielefeld) international ein gutes Zeugnis aus – jedoch ebenfalls „bei erheblichen regionalen Ungleichgewichten“ bis hin zu einer Unterversorgung mit Ärzten und Pflegekräften sowohl auf dem Land wie in benachteiligten Stadtvierteln. Auch die Umgehung von Zugangsproblemen durch eine private (Zusatz-)Versicherung sei Ausdruck sozialer Ungleichheit.
Panel 3: Die Rolle der Arbeit und der Arbeitsbedingungen für antidemokratische Einstellungen und das Erstarken extrem rechter Parteien
Johannes Kiess von der Universität Leipzig untersucht gemeinsam mit anderen jährlich in der Autoritarismus-Studie die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen. Er nannte Krisen ein Möglichkeitsfenster für die extreme Rechte, da sie allen die Zumutungen der Moderne bewusst mache. In den vergangenen Jahrzehnten erlebten die Menschen eine Krisenkaskade, die bereits mit der Finanzkrise 2008 begann.
In der Studie stellt das Team einen positiven Effekt von Beteiligung in der Arbeitswelt auf demokratische Einstellungen fest. Gleichzeitig ergab die aktuelle Befragung, dass im Osten die Zustimmung zu positiven Beteiligungserfahrungen im Betrieb 2024 eingebrochen ist. Das Erleben von Beteiligung im Betrieb habe sich offenbar verändert, was Kiess mit der Krisenerfahrung im Osten erklärte. Er betonte aber auch, dass Antisemitismus und NS-Verharmlosung im Westen stärker seien als im Osten. Keinen Zusammenhang zur Beteiligung im Betrieb fand das Team der Uni Leipzig bei Chauvinismus und sozial-exklusiver Solidarität. „Zusammenhalt in der Arbeitswelt kann auch exklusiv sein“, sagte Kiess.
WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch beschäftigte sich ebenfalls mit der Frage, ob Teilhabe am Arbeitsplatz mit positiven Einstellungen zur Demokratie korreliert, allerdings auf europäischer Ebene. Ein Ergebnis: Nur in Deutschland und Schweden übersetzt sich Zufriedenheit mit demokratischer Teilhabe am Arbeitsplatz in geringere Präferenzen für rechte Parteien. Neben der demokratischen Beteiligung am Arbeitsplatz wurden weitere Faktoren untersucht. „Job-Sorgen und Auswirkungen der Transformation führen öfter zu antidemokratischen Einstellungen, was sich auf Wahlentscheidungen überträgt“, sagte Kohlrausch.
Ob sich Veränderungen im Betrieb negativ auf demokratische Einstellungen auswirken, könnte aber auch damit zusammenhängen, wie Betriebe mit Veränderungen umgehen. Leon Küstermann vom European University Institute in Florenz zeigte in seiner Arbeit, dass bei technologischem Wandel vor allem exklusive Strategien rechte Tendenzen stärken. Unterstützen Betriebe dagegen ihre Beschäftigten während des Wandels, nehme atypische Beschäftigung eher ab, zeige sich das Gegenteil. „Politische Folgen des Strukturwandels sind nicht unausweichlich“, sagte Küstermann. „Wir müssen überlegen, welche politischen Maßnahmen den Wandel am Arbeitsplatz positiv unterstützen können.“
Panel 4: Arbeit vs. Kapital: Verteilungskonflikte aus der Perspektive der funktionalen Einkommensverteilung.
Jan Behringer, Referatsleiter für Makroökonomie der Einkommensverteilung im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung stellte die verteilungspolitische und makroökonomische Bedeutung der Lohnquote vor – also des Anteils der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen. Um zehn Prozent ist diese, bereinigt um die steigende Zahl Selbstständiger, seit Anfang der 1980er-Jahre gesunken. „Ein wichtiger Grund dafür ist der vergrößerte Niedriglohnsektor“, so Behringer.
In Deutschlands Unternehmen stapeln sich zugleich, bildlich gesprochen, immer mehr Gewinne, die oft nicht reinvestiert werden. Hintergrund sei der hohe Anteil mittelständischer Betriebe, von denen viele in Familienhand sind und über Generationen weitergegeben werden. Dort müssten erstens Gewinne nicht ausgeschüttet werden, behalte man Geld zweitens gern in der Familie, drittens sei auch steuerlich attraktiv, Gewinne einzubehalten.
Im Krisenjahr 2022 sank der Reallohn so stark wie nie zuvor – um 4,4 Prozent, und das, obwohl die ausgezahlten Löhne im selben Jahr durchaus moderat stiegen. Schuld daran waren die massiv gestiegenen Verbraucherpreise, die bis heute meist mit einem „Energiepreisschock“ in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine erklärt werden. Thilo Janssen (WSI) analysierte, dass dies ein gern gepflegter Mythos ist: „Zu großen Teilen haben wir es mit einer gewinngetriebenen Preisentwicklung zu tun“, konstatierte Janssen, „die Kapitalseite hat hinzugewonnen, die Beschäftigtenseite verloren.“ Für dieses Jahr immerhin sagte er „deutlich anziehende Reallöhne“ voraus: „Es gibt eine Aufholbewegung.“
Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft Verdi, führte die „dramatisch gewachsene Ungleichheit“ auch auf die zurückgehende Verhandlungsmacht von Beschäftigten zurück: „Gewerkschaften sind und bleiben das beste Rezept gegen Ungleichheit.“ Schon zu Zeiten der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder seien diese als „Dompteure des Kapitalismus“ in schwierigem Fahrwasser gewesen – mit einem Verlust von mehreren Millionen Mitgliedern nach 1990. „Uns ist es nicht gelungen, den Marsch von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft zu organisieren“ erklärte Hirschel, und mahnte mehr Bemühen um eine größere Vielfalt der Mitglieder an: „Wir müssen die moderne Arbeitswelt besser abbilden.“
Für die Zukunft indes gab er sich nicht so pessimistisch. Vor allem dank besseren Organizings seien positive Entwicklungen zu verzeichnen. So habe Verdi im vergangenen Jahr sogar Mitglieder hinzugewonnen. Zu verdanken sei das nicht zuletzt der „erhöhten Konflikt- und Streikbereitschaft außerhalb gewerkschaftlicher Kernklientel“; etwa in Kitas, Krankenhäusern oder bei Amazon-Beschäftigten. Hierschel: „Wir sind wieder handlungsfähig und auf dem Weg nach vorn.“