Quelle: Mina Gerngross
Service aktuellHans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht: “Nach der Reform ist vor der Reform”
Digitalisierung, Globalisierung und Transformation treiben den Wandel. Auf dem 13. Hans-Böckler-Forum wurde der Frage nachgegangen, ob das Arbeits- und Sozialrecht Schritt halten kann.
[22.02.2022]
Welche Weiterentwicklungen sind möglich, welche sind nötig? Auf der zweitägigen Konferenz diskutierten dies mehrere hundert Expertinnen und Experten aus Rechtswissenschaft und von Gerichten, aus Gewerkschaften und Politik. Teilgenommen haben in diesem Jahr unter anderem online die neue Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner und vor Ort der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Dr. Rainer Schlegel, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Im Geiste Hugo Sinzheimers gehen wir davon aus, dass das Recht einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, soziale Gräben zu schließen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil betonte die wichtige Rolle von Betriebs- und Aufsichtsräten für die Gesellschaft und vor allem das Recht, Interessen zu vertreten. Mitbestimmung sei Demokratie im Unternehmen und Unterdrückung von Demokratie könne sich der Rechtsstaat nicht leisten. Deshalb forderte er mehr Schutz für Betriebsräte. Zwar hatte er erst in der vergangenen Legislaturperiode das Betriebsrätemodernisierungsgesetz durchgesetzt. Doch: „Nach der Reform ist vor der Reform”, sagte der Minister in seiner Rede. Nun will er dafür sorgen, dass die Behinderung von Betriebsratsarbeit und Betriebsratswahlen von einem Anzeigendelikt in ein Offizialdelikt geändert wird. Der Unterschied: Für ein Anzeigendelikt ist ein Strafantrag erforderlich, das Offizialdelikt wird automatisch von Amts wegen verfolgt. Heil regte die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften in den Ländern an.
Ausbildung muss Vorrang haben
„Die Fachkräftesicherung wird zentrale Priorität der Regierung”, sagte Heil. Auch hier droht in seinen Augen Schaden für die Demokratie. Nämlich dann, wenn sich Menschen abgehängt oder durch die fortschreitende Digitalisierung ausgegrenzt fühlen und die Gesellschaft so weiter gespalten wird. Dies sei für ihn eine “Horrorvorstellung”. Als Hebel gegen diese Entwicklung nannte er die Qualifizierung und Weiterbildung. Junge Menschen sollen eine Ausbildungsgarantie erhalten.
Auch Langzeitarbeitslosen will er helfen. Zwei Drittel von ihnen sind ohne Berufsausbildung. Wer Bürgergeld erhält, soll nun nicht mehr unbedingt in beliebige Jobs vermittelt werden. „Die Berufsausbildung muss Vorrang vor Arbeit haben. Wir müssen eine Weiterbildungsrepublik werden”, sagte er.
„Luft nach oben” sieht er bei der Erwerbsquote von Frauen. Für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt will Heil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Vor allem Frauen sollen mehr Zeit für den Beruf oder für Qualifizierung haben. Er formulierte einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung von Kindern auch an Grundschulen.
Mit Gedanken zum Mindestlohn schloss Heil seine Rede, für die es vom Saalpublikum langanhaltenden Applaus gab. Der Mindestlohn wird zwar am 1. Oktober auf zwölf Euro steigen. Doch sei ein Mindestlohn nur „second best”. Besser sei es, die nun bereits über Jahre schwindenden Tarifbindungen wiederherzustellen. Nur noch 48 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind tarifgebunden.
Tarifflucht stoppen
Diesen Ball nahm der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann auf. Er forderte ein Vergaberecht für öffentliche Aufträge, das an eine Tarifpflicht der bewerbenden Unternehmen gekoppelt ist. Dies käme nicht nur Arbeitnehmer*innen zugute, sondern auch Bürger*innen. Denn solange Beschäftigte so wenig Lohn erhalten, dass sie am Ende aufstocken müssen, ginge das zulasten der Steuerzahler.
Diese Unternehmen dürfen nicht mehr als Tarifpartner anerkannt werden.
Nicht tarifgebundene Unternehmen in Arbeitgeberverbänden erteilte Hoffmann eine Absage. Die Mitgliedschaft ohne eigene Tarifbindung sei zwar inzwischen üblich, sagte er. Der DGB-Chef sieht darin aber einen Rechtsverstoß. Die Konsequenz: „Diese Unternehmen dürfen nicht mehr als Tarifpartner anerkannt werden.”
Hoffmann beklagte auch die Flucht vieler Firmen aus der unternehmerischen Mitbestimmung. Oft wird die Bildung eines Aufsichtsrats durch die Verwendung einer ausländischen Gesellschaftsform umschifft. Hoffmanns Forderung: Wächst eine europäische Firma der Gesellschaftsform SE auf über 2000 Mitarbeiter an, solle „eine Pflicht zur Nachverhandlung der Mitbestimmung” greifen. Für deutsche Unternehmen brachte der DGB-Chef einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat für Unternehmen ab einer Größe von 1000 Mitarbeitern ins Spiel. Derzeit liegt die Grenze bei 2000.
Es war Reiner Hoffmanns letzte Rede als DGB-Chef auf diesem Podium. Er wird im Mai Platz machen für seine designierte Nachfolgerin Yasmin Fahimi. Zuvor indes will er Anfang April einen Vorschlag für eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vorstellen, wie er in Berlin ankündigte – getreu dem Prinzip: „Nach der Reform, ist vor der Reform.”
Weitere Informationen
Das Hans-Böckler-Forum ist einer der größten Kongresse in Deutschland für den Austausch über Themen des Arbeits- und Sozialrechts. Expertinnen und Experten referierten und diskutierten über neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen der Rechtsprechung. Auf der Hybridveranstaltung, die online und in Berlin stattfand, ging es in zahlreichen Fachforen um die neuesten Entwicklungen im europäischen Arbeitsrecht, etwa die Regulierung von künstlicher Intelligenz oder Mindestlöhnen, um neue Formen der Arbeit, aber auch um Compliance, Whistleblowing und Fragen der Gleichstellung. Veränderungen im Rentenrecht waren ebenfalls Thema, ebenso wie die Stärkung von betrieblicher Mitbestimmung und Tarifautonomie.
Mehr Eindrücke, Fotos und Vorträge des Forums auf Twitter unter dem Hashtag HBS_Forum22.
Die komplette Dokumentation zum 13. Hans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht
Interview im Vorfeld des Forums mit Johanna Wenckebach, der Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI).