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WSI Herbstform 2021 Service aktuell

WSI-Herbstforum 2021: Knappes Gut Solidarität

Bei unserem diesjährigen WSI-Herbstforum ging es um die gesellschaftliche Solidarität in der Krise. Sorgenvoll blickten die Teilnehmer:innen der Politikerrunde auf die Berliner Koalitionsverhandlungen.

[16.11.2021]

Von Andreas Molitor

Wenn es so etwas wie den weißen Elefanten beim diesjährigen WSI-Herbstforum gab, dann waren es die Koalitionsverhandlungen der Berliner Ampel-Koalitionäre. Zwar war niemand von den Chef-Unterhändlern der drei Parteien zugegen, doch die Gespräche schwebten über sämtlichen Foren und Panels. Was bedeuten die Ampel-Vereinbarungen für die nächsten vier Jahre und weit darüber hinaus, für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, für eine faire Transformation der Wirtschaft, für Geschlechtergerechtigkeit, Mitbestimmung und den Kampf gegen den Klimawandel? Unter dem Motto „Solidarität in der Krise“ hatte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung zum Herbstforum eingeladen, das diesmal als hybride Veranstaltung stattfand – in Präsenz in Berlin und online.

Der Blick auf die Verhandlungen der rot-gelb-grünen Koalition stand naturgemäß besonders im Fokus der Politiker-Diskussionsrunde „Konzepte solidarischer Absicherung von Erwerbsarbeit auf dem Prüfstand“, besetzt mit Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken sowie dem Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, Roman Zitzelsberger. Die Rolle der Kassandra übernahm die Linken-Parteichefin Katja Kipping. Sie habe die „große Sorge, dass die Ampelkoalition Solidarität eher erschweren oder behindern“ werde. Im Sondierungspapier der Koalitionäre sehe sie „einen Punktsieg nach dem anderen für die FDP“, zog sie eine Zwischenbilanz. „Alles was wir hier diskutieren und worüber wir uns möglicherweise auch einig sind, können wir für die nächsten vier Jahre vergessen, wenn in den nächsten Tagen die Weichen nicht grundlegend anders gestellt werden.“ Was nicht im Koalitionsvertrag stehe, „wird auch nicht passieren, es sei denn, wir bekommen ein soziales Fukushima, und das kann keiner wollen“.

  • WSI Herbstforum 2021
    WSI Herbstforum 2021

Nicht ganz sorgenfrei äußerte sich auch Andreas Audretsch, neu gewählter Bundestagsabgeordneter vom grünen Koalitionspartner in Spe. Man müsse jetzt aufpassen, dass nicht nur „neue Namen für alte Systeme erfunden werden“, zum Beispiel beim Bürgergeld, dem Ersatz für Hartz IV, ein System, das auf Misstrauen basiert. Auch künftig soll es, so viel ist durchgesickert, Sanktionen für kooperationsunwillige Bürgergeld-Bezieher geben. Grüne und linke Sozialdemokraten hätten die Drohung mit Sanktionen gern abgeschafft, konnten sich aber nicht durchsetzen. Für die Sozialdemokratin Annika Klose, ebenfalls frisch ins Parlament gewählt, sind – bislang mögliche und auch praktizierte – Sanktionen unterhalb des Existenzminimums „ein absolutes No-Go“.

Andere Akzente setzte Roman Zitzelsberger. „Die Menschen, die wir vertreten, haben überwiegend gute Arbeit“, sagte er. Sein Bestreben als Gewerkschafter sei es, die Menschen „von diesem System, das die Existenz auf dem untersten Level absichert, nach Möglichkeit fernhalten“. Zum Beispiel – im Angesicht der digitalen und ökologischen Transformation – durch ein Transformationskurzarbeitergeld, das es ermöglicht, die Beschäftigten im Betrieb zu halten und für neue Aufgaben zu qualifizieren. Der Metaller plädierte für eine „beispiellose Weiterbildungs- und Qualifizierungsoffensive – damit wir nicht auf der einen Seite einen Arbeitskräftemangel produzieren und auf der anderen Seite Transformationsverlierer“. In vielen Fällen reiche es nicht aus, Angebote zu machen – man müsse „die Menschen auch begleiten, damit sie diesen Weg mitgehen“. Etwa jene, „die 25 Jahre Tag für Tag das Gleiche gemacht haben für ein Produkt, das es künftig nicht mehr geben wird“.

Wenn Klimaaktivistinnen sich für Pflegekräfte einsetzen und umgekehrt, dann haben wir gewonnen.

Andreas Audretsch

Zitzelsberger, ganz Mann der Praxis, war die Verwunderung über die eine oder andere Äußerung der beiden Jungparlamentarier deutlich anzumerken. Etwa als Andreas Audretsch postulierte, dass „die ganzen Automobilzulieferbetriebe in Baden-Württemberg in zehn Jahren nicht mehr existieren werden“. Für hochgezogene Augenbrauen sorgte auch Annika Kloses flammendes Plädoyer für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung „über alle Branchen hinweg, natürlich bei vollem Lohnausgleich“. Dies wäre ein großer Schritt der Solidarität, meinte sie. Da mag Zitzelsberger sich gefragt haben, woher denn die dringend benötigen Fachkräfte für die Digitalisierung kommen sollen, wenn jetzt alle weniger arbeiten. Und aus welchen Kassen die kriselnden Automobil-Zulieferer im Ländle den vollen Lohnausgleich bestreiten sollen.

Einigkeit bestand indes über ermutigende Ansätze für mehr Solidarität in Wirtschaft und Gesellschaft in jüngster Zeit – etwa den von der Ampel-Koalition beschlossenen Mindestlohn von 12 Euro. Oder die gemeinsame Kampagne von Verdi und Fridays For Future für bessere Arbeitsbedingungen im Öffentlichen Personennahverkehr. In dieser Richtung müsse es weitergehen, meinten alle. „Wenn Frauen sich für Industriearbeiter einsetzen und Industriearbeiter für Frauen“, sagte der Grüne Andreas Audretsch, „wenn Klimaaktivistinnen sich für Pflegekräfte einsetzen und umgekehrt, dann haben wir gewonnen.“

  • WSI Herbstforum 2021 Kohlrausch Hüther
    Michael Hüther (IW Köln) und WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch.

Am Vormittag hatte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch Einblick in die jüngsten Auswertungen ihres Instituts zu pandemiebedingten sozialen Ungleichheiten gewährt. „Vor Corona sind nicht alle gleich” lautete die Arbeitshypothese – die durch die Auswertung der Empirie bestätigt wurde.  Vor allem im Bildungsbereich habe die Pandemie schichtspezifische Unterschiede in einem dramatischen Ausmaß vergrößert. „Die Schere ist weiter auseinander gegangen”, so Kohlrausch, „die Kinder, die es am meisten nötig gehabt hätten, sind im Homeschooling weiter zurückgefallen und haben richtig gelitten. Wir haben Schüler verloren.” Aufschlussreich war auch ein Blick auf den „Gender Care Gap”: Wegen der Schließung von Kitas und Schulen mussten Eltern teils monatelang zu Hause einspringen – und diese Arbeit wurde überwiegend von Frauen geleistet. Gerade Frauen in schwächerer Arbeitsmarktposition, also Minijobberinnen und Teilzeitkräfte, „haben sich in der Coronakrise tendenziell stärker vom Arbeitsmarkt zurückgezogen”, erklärte Bettina Kohlrausch. Ihre Befürchtung: Es handelt sich nicht um vorübergehende Verschiebungen, sondern „es besteht die Gefahr, dass Frauen nachhaltig vom Arbeitsmarkt verdrängt werden”.

Live Podcast Systemrelevant

Eine Live-Ausgabe des Podcasts "Systemrelevant" mit WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch und dem Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau sowie Moderator Marco Herack zum Thema „Herausforderungen sozialen Zusammenhalts in ausdifferenzierten Gesellschaften“ bildete den Abschluss des Herbstforums.

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