Quelle: HBS/Marco Urban
Service aktuellMitbestimmung : "70 Jahre und kein bisschen leise"
70 Jahre Montanmitbestimmung - dieses große Jubiläum feierten die Hans-Böckler-Stiftung und der DGB mit Gästen aus Gewerkschaften, Betriebs- und Aufsichtsräten sowie der Politik. Ganz nach dem Motto der aktuellen Informationskampagne "Mitbestimmung sichert Zukunft" wurde nicht nur auf Erfolge zurück-, sondern in Richtung bevorstehender Aufgaben nach vorne geblickt.
von Gunnar Hinck
Es war die erste Großveranstaltung in Präsenz nach anderthalb Corona-Jahren, und das Wetter meinte es gut: Nachdem es tagelang durchgeregnet hatte, blieb es bei der Jubiläumsfeier zu 70 Jahren Montanmitbestimmung trocken. 260 Gäste aus Gewerkschaften, Betriebs- und Aufsichtsräten und der Politik waren auf Einladung der Hans-Böckler-Stiftung und des DGB zum „Teehaus“ im Berliner Tiergarten gekommen, um an die Erfolge und die Bedeutung der Montanmitbestimmung zu erinnern und über die Zukunft der Mitbestimmung zu diskutieren. Die Veranstaltung mit dem Motto „70 Jahre und kein bisschen leise“ war ein Höhepunkt der diesjährigen Informationskampagne „Mitbestimmung sichert Zukunft“.
Wohl prominentester Gast war Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Mehrere Staatssekretäre und Bundestagsabgeordnete aus verschiedenen Parteien waren ebenso gekommen wie die Vorsitzenden von IG Metall, IG BCE, NGG und GEW. Zahlreiche weitere Vorstandsmitglieder der Gewerkschaften und Praktikerinnen und Praktiker der Mitbestimmung machten deutlich: Beteiligungsrechte der Beschäftigten zu sichern und zu stärken, hat im Wahljahr 2021 hohe Priorität.
Aus gutem Grund: DGB-Chef Reiner Hoffmann erinnerte in seiner Ansprache daran, dass durch die Mitbestimmung wirtschaftliche Krisen besser abgefedert werden: Die Montanmitbestimmung verhinderte ab den sechziger Jahren soziale Verwerfungen im Ruhrgebiet und im Saarland – und mit der Mitbestimmung kamen die Arbeitnehmer und Unternehmen besser durch die Corona-Krise 2020, die zu Umsatzeinbußen und Produktionsausfällen geführt hatte. Nicht nur das: „Studien zeigen, dass mitbestimmte Unternehmen produktiver sind.“, sagte Hoffmann. Scharf kritisierte er Unternehmen, die sich der Sozialpartnerschaft verweigern und sich durch Tricks der gesetzlich verankerten Mitbestimmung entziehen: „Unsere Geduld ist an der Stelle am Ende.“
Bestehende Gesetzeslücken müssten endlich geschlossen werden. Bislang können deutsche Unternehmen durch juristische Kniffe wie die Nutzung von Europäischen Aktiengesellschaften (SE), ausländischen Rechtsformen oder von Stiftungskonstruktionen die Unternehmens-Mitbestimmung umgehen. Andere ignorieren sogar die geltenden Gesetze ohne Sanktionen erwarten zu müssen. „Wir brauchen einen mutigen Gesetzgeber“, sagte Hoffmann. Unabhängig vom Wahlausgang setzten die Gewerkschaften auf die neue Bundesregierung, damit die Regelungslücken endlich geschlossen werden – und darüber hinaus die Mitbestimmungsrechte ausgebaut werden.
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Eine kurze Diskussionsrunde mit den Arbeitsdirektorinnen Sylvia Borcherding (50 Hertz), Kerstin Oster (Berliner Wasserbetriebe), Dr. Marc Schlette (thyssenkrupp Material Services) sowie den Konzernbetriebsratsvorsitzenden von Siemens und Unilever Deutschland, Bettina Haller und Hermann Soggeberg, erlaubte einen Einblick in die Herausforderungen, vor denen Vorstände und Mitbestimmung stehen.
Und sie machte deutlich, an welchen Stellen es hapert und wo es mehr Mitbestimmung braucht. Für Bettina Haller hat das Betriebsrätemodernisierungsgesetz, das dieses Jahr vom Bundestag verabschiedet wurde, bei der Digitalisierung und dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz Fortschritte gebracht - „aber es reicht nicht“. Unter Applaus forderte sie, die Mitbestimmung der Betriebsräte bei der strategischen Personalplanung auf echte Mitentscheidungsrechte auszuweiten.
Hermann Soggeberg bemängelte, dass es auf europäischer Ebene bislang nur Informationsrechte und keine echten Mitbestimmungsrechte gibt. „Wie gut die Kooperation funktioniert, hängt zu sehr an Personen im Vorstand. Wenn die Zusammenarbeit gut klappt, kann es wegbrechen, sobald es zu einem Personalwechsel im Vorstand kommt“, sagte Soggeberg.
Einen Blick von außen brachte der Berliner Publizist Albrecht von Lucke mit einer feurigen Rede ein. Auch er erinnerte an die Geschichte der Montanmitbestimmung, die auch auf den Weg gebracht wurde, um die Kohle- und Stahlindustrie nach der Verstrickung mit dem Nationalsozialismus zumindest teilweise einer Kontrolle durch die Arbeitnehmervertreter zu unterziehen. „Die Gewerkschaften erhoben den Anspruch, über die Produktion mitzubestimmen.“
Das bedeutete neben einer betrieblichen auch eine gesellschaftliche Dimension der Mitbestimmung, die seitdem gesetzlich verankert ist. Der Redakteur der Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ schlug einen Bogen zur Gegenwart und regte an, angesichts einer „Dekade der Entscheidung“ - er meinte die Dekarbonisierung der Industrie – die Klimabewegung Fridays for Future als Bündnispartner zu gewinnen – um zusammen mit ihnen in die Gesellschaft hineinzuwirken.
Für die neue Legislaturperiode sah von Lucke „neue Chancen“, was die Mitbestimmung anbelangt. Seine These: Der nächste Kanzler oder die nächste Kanzlerin werde mit einer wahrscheinlichen Drei-Parteien-Koalition im Vergleich zu früheren Kanzlern im Kabinett eine eher moderierende Rolle spielen. „Dieses komplizierte Geflecht der neuen Regierung ermöglicht den Gewerkschaften mehr Einfluss, weil sie an verschiedene Stellen andocken können. Neue Aushandlungsprozesse werden möglich sein“, so Luckes optimistischer Ausblick auf die Zeit nach der Bundestagswahl.
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