Forschungsprojekt: Ostdeutsche Mitbestimmung im historischen Wandel

Projektziel

Das Projekt erforschte die Entwicklung von Mitbestimmung in ostdeutschen Metallbetrieben seit der Wendezeit. Anhand von zehn Betriebsfallstudien wurden Kontinuitätslinien und Bruchstellen mitbestimmungspolitischer Handlungs- und Deutungsmuster im Kontext der wechselvollen ökonomischen und politischen Geschichte Ostdeutschlands analysiert.

Veröffentlichungen

Artus, Ingrid, Andreas Fischer, Judith Holland und Michael Whittall, 2025. Ostdeutsche Mitbestimmung im historischen Wandel. Ergebnisbericht zum Forschungsvorhaben, Erlangen: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 17 Seiten.

Artus, Ingrid, Andreas Fischer, Judith Holland und Michael Whittall, 2023. Im Osten was Neues?. Tarifpolitische Strategien der IG Metall in Ostdeutschland, PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 2, S. 245-265.

Artus, Ingrid, Andreas Fischer, Tobias Gellenthien, Judith Holland und Michael Whittall, 2023. Ostdeutsche Mitbestimmung revisited: Betriebsräte 30 Jahre nach der »Wende«, PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 212, S. 493-513.

Whittall, Michael, Ingrid Artus, Andreas Fischer und Judith Holland, 2023. Les strategies d'IG Metall en matiere de negoclation collective : a l'est, rien de nouveau?, CHRONIOUE INTERNATIONALE DE L'IRES , 2023(183), S. 67-83.

Projektbeschreibung

Kontext

Das Projekt untersuchte zehn ostdeutsche Betriebe der Metall- und Elektroindustrie, in denen in den Jahren 1993 und 1994 ausführliche Interviews mit Betriebsrats- und Managementvertreter*innen zur Etablierung der Mitbestimmung in Ostdeutschland geführt worden waren. Das historische Datenmaterial wurde einer Sekundäranalyse unterzogen, wobei die historischen Orientierungen der damaligen Mitbestimmungsakteur*innen (auch) als Vorgeschichte heutiger Problemkonstellationen verstanden wurden. 25 Jahre später wurde in den damaligen Untersuchungsbetrieben die aktuelle Mitbestimmungssituation erneut untersucht, mit einem ähnlichen theoretischen Konzept sowie methodischen Design wie damals (vgl. Artus et al. 2001; Betriebliches Interessenhandeln, Band 2). Ziel der Studie war es, die aktuelle mitbestimmungspolitische Situation in Ostdeutschland auch als Ergebnis „von Geschichte“ und deren interessenpolitischer Interpretation zu verstehen.

Fragestellung

Ziel der Follow-up-Studie war es, typische Stabilitätsbedingungen und Wandlungsprozesse betrieblicher Mitbestimmungskulturen in Ostdeutschland seit den 1990er-Jahren in ihrem zeitlichen Verlauf empirisch wie theoretisch zu rekonstruieren. Es sollte darüber hinaus ein Beitrag zum Verständnis der Dynamik betrieblicher Mitbestimmung in Gesamtdeutschland sowie von Institutionenwandel im Allgemeinen geleistet werden. Wie wirken sich rechtliche und tarifliche Veränderungen (z.B. Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, „Hartz IV“-Gesetzgebung, Verbetrieblichung der Tarifpolitik) auf Mitbestimmungshandeln aus? Welche Rolle spielen einschneidende überbetriebliche Ereignisse (z.B. Tarifkonflikte, Wirtschaftskrisen), gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse (z.B. Generationenwandel, veränderte Geschlechterarrangements) sowie betriebliche Faktoren (z.B. Privatisierung/Verkauf des Unternehmens, veränderte Managementstrategien, personelle Wechsel im Management und im Betriebsrat)?

Untersuchungsmethoden

Das Forschungsprojekt hat anhand der Sekundäranalyse von historischem Interviewmaterial sowie aktueller qualitativer Interviews zehn historisch angelegte betriebliche Fallstudien erarbeitet. Die anhand der Fallstudien identifizierten Muster von Stabilität und Wandel betrieblicher Mitbestimmungskulturen wurden anschließend verglichen, um typische Verlaufsmuster von Mitbestimmung zu erarbeiten. Zunächst wurden Vertreter*innen der IG Metall sowie regionale Expert*innen kontaktiert, um Informationen über die Geschichte und aktuelle Situation in den Untersuchungsbetrieben zu erhalten. Anschließend wurden ausführliche Leitfadeninterviews in allen Fallbetrieben durchgeführt, mit derzeit aktiven Management- und Betriebsratsvertreter*innen sowie auch mit ehemaligen betrieblichen Akteur*innen. Das methodische Design wurde selektiv ergänzt um Gruppendiskussionen mit Beschäftigten, die das kollektive Geschichtsbild zum Thema hatten.

Darstellung der Ergebnisse

1. Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit: Gewerkschaften setzen in Ostdeutschland erfolgreich auf Haustarifverträge und neue Strategien der bedingungsgebundenen Gewerkschaftsarbeit, um den Rückgang der Tarifbindung zu stoppen.

2. Wahrnehmung innerdeutscher sozialer Ungleichheiten durch ostdeutsche Betriebsräte: Teilweise enthalten DDR-Bezüge und deren Integration in spezifische Ost-Identitäten Momente des Selbst-Empowerments. Bei jüngeren Mitgliedern ist die Transformationsphase in der kollektiven Erinnerung kaum noch präsent.

3. Generation und Mitbestimmung: Anhand der Dimensionen Generationslage und Mitbestimmungserfahrung werden vier generationentypische Muster unterschieden.

4. Vier typische Muster des Mitbestimmungswandels – Konsolidierung, Wiederherstellung, Transformation und krisenhafter Wandel – wurden rekonstruiert. Sie hängen von der wirtschaftlichen Lage, Privatisierungsverlauf und Eigentümerstruktur des Betriebs ab. Während sich in ökonomisch stabilen Betrieben eine Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland zeigt, erschwert der Fachkräftemangel in wirtschaftlich schwächeren Betrieben Strategien einer konfliktorientierten Mitbestimmung.

Projektleitung und -bearbeitung

Projektleitung

Prof. Dr. Ingrid Artus
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Soziologie

Bearbeitung

Dr. Judith Holland
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Soziologie

Dr. Andreas Fischer
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Soziologie
Department Sozialwissenschaften und Philosophie

Kontakt

Dr. Michaela Kuhnhenne
Hans-Böckler-Stiftung
Forschungsförderung