Projektbeschreibung
Kontext
Im Zuge der Restrukturierung zum aktivierenden Sozialstaat, forciert durch die Krise der Staatsfinanzen und eine Krise sozialer Reproduktion, gewinnt das sorgende Potenzial unbezahlter Arbeit – auch jenseits familiärer Kontexte – (sozial-)politisch an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist eine Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage der fürsorglichen Gemeinschaft zu beobachten, bei der zunehmend die moralische Pflicht zur gemeinwohldienlichen Aktivität aller Sozialstaatsbürger*innen proklamiert wird. Freiwilligenarbeit und Engagement avancieren dabei, so die Ausgangsbeobachtung des Projekts, in Zeiten sich krisenhaft wandelnder Familien- und Geschlechterverhältnisse zum Lebenselixier des Gegenwartskapitalismus.
Fragestellung
Während es in der Engagementforschung an Fallstudien zu einzelnen Engagementfeldern nicht mangelt, fehlt es an wohlfahrtsstaatstheoretisch fundierten, übergreifenden empirischen Analysen, die die Inanspruchnahme unbezahlter oder geringfügig entschädigter Freiwilligenarbeit in unterschiedlichen Feldern in den Blick nehmen. Angesichts der empirisch gut belegten, politischen Adressierung des Engagements als neuer Produktivitätsressource, interessierte uns hier konkret, inwiefern das Fördern, Fordern und In-Anspruch-Nehmen von Engagement und Freiwilligenarbeit im aktivierenden Sozialstaat zum Vehikel von Informalisierungs- und De-Professionalisierungsprozessen in verschiedenen Arbeitsfeldern wird. Außerdem sind wir der Frage nachgegangen, inwiefern bestimmte freiwillige Aktivitäten staatlicherseits für eine (neu-)subsidiäre Daseinsfürsorge in Dienst genommen werden und schließlich wie diese Konstellation von Engagierten erlebt, gedeutet und gestaltet wird.
Untersuchungsmethoden
Unser Methodenmix umfasst Institutionen- und Dokumentenanalysen, teilnehmende Beobachtungen und eine qualitative Interviewstudie mit Expert*inneninterviews, Gruppengesprächen und problemzentrierten Interviews mit Engagierten. An vier Untersuchungsorten in jeweils zwei Mittelstädten und Landkreisen in Baden-Württemberg und Brandenburg wurden 46 Engagierteninterviews, sechs Gruppengespräche sowie vier teilnehmende Beobachtungen bei Schulungsveranstaltungen und Netzwerktreffen von Engagierten durchgeführt. Ferner wurden 80 Interviews mit Expert*innen in den vier Untersuchungsorten sowie auf Länder- und Bundesebene geführt. Daneben bildet ein für den Zeitraum von 2011 bis 2017 erstellter und systematisch kodierter Datenkorpus aus 1250 Dokumenten (z.B. Regierungs- und Parteiprogramme, Veröffentlichungen von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen sowie Artikel aus der regionalen und überregionalen Presse) die empirische Basis des Forschungsprojekts.
Darstellung der Ergebnisse
Instrumentalisierung: Freiwillige übernehmen zunehmend zentrale, teilhabesichernde Aufgaben der sozialen Daseinsvorsorge. Während viele Expert*innen dies problematisieren, deuten Engagierte es sehr unterschiedlich: Was die einen als Ausnutzung problematisieren, ist für andere eine notwendige, wünschenswerte Entwicklung.
Informalisierung: Im Spannungsfeld von Freiwilligen- und Erwerbsarbeit entstehen durch Neuregelungen bei den Zuverdienstgrenzen im ALG-II, den Rückbau arbeitsmarktpolitischer Fördermaßnahmen und Fachkräftemangel im Sozialsektor arbeitsrechtliche Graubereiche.
Deprofessionalisierung: Der Einsatz Freiwilliger gewinnt in den Sozialberufen an Bedeutung. Engagement entlastet hier und wirkt sich zugleich nachteilig auf die berufliche Handlungspraxis und Professionalisierungsbestrebungen aus. Fürsorgliche Tätigkeitsanteile werden dabei unter dem Druck von Rationalisierung und Ökonomisierung in den Bereich informeller Hilfen ausgelagert.
Praxis- und Politisierungsthese: Kritik der Engagementbedingungen finden wir hauptsächlich in der Flüchtlingshilfe. Im sorgenahen Engagement lassen sich stattdessen de-politisierende Deutungen rekonstruieren.